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Covid-19 und AusgangsbeschränkungenFehlen wissenschaftliche Begründungen für Corona-Maßnahmen?

30. April 2020, 16:36 Uhr

Verzerrte Zahlen zu Neuinfektionen, falsche Darstellungen und gar keine exponentielle Ausbreitung des Coronavirus. Ein Psychologie-Professor argumentiert, dass die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu drastisch sind, weil diese gar nicht so drastisch sei. Doch was ist dran an seinen Behauptungen?

von Matthias Pöls

Ist die Corona-Pandemie in Deutschland gar nicht so dramatisch, wie es bislang dargestellt wird? Sind so drastische Beschränkungen des Lebens und Eingriffe in die Grundrechte der Bürger gar nicht notwendig? "Ja", sagt der Professor für Psychologie, Christof Kuhbandner. Das Problem bestehe vor allem in der fehlerhaften Interpretation der Daten zu Neuinfektionen und Todesfällen sowie einer irreführenden Darstellung, erklärt der Mann von der Universität Regensburg in einem Gastbeitrag auf der redaktionell unabhängigen Blogplattform "Scilogs.de", die mit dem renommierten Wissenschaftsportal "Spektrum.de" assoziiert ist.

Zahl der Corona-Neuinfektion hinkt hinterher

Die Menschen gehen erst zum Arzt, wenn Symptome auftreten. Bildrechte: imago images/Pacific Press Agency

So schreibt der Psychologe am Anfang seines Textes mit dem Titel "Von der fehlenden wissenschaftlichen Begründung der Corona-Maßnahmen", dass die Situation gar nicht so dramatisch sei und die veröffentlichten Zahlen ohnehin immer hinterherhinkten. Das habe aus seiner Sicht mehrere Gründe: Die Menschen melden sich erst, wenn Symptome auftreten – also fünf bis sechs Tage nach der Infektion, wie auch das Robert-Koch-Institut (RKI) klarstellt.

Dann nimmt Kuhbandner weitere, eigene Annahmen mit hinzu: Die Menschen würden nicht gleich bei den ersten Symptomen zum Arzt gehen, dann dauere es, bis das Testergebnis vorliege und so vergehen viele weitere Tage. Deswegen sei die Statistik des RKI nicht korrekt, sondern mindestens zwei Wochen hinterher.

Kuhbandner unterschätzt Gefahr durch das Virus

"Er hat richtig erkannt, dass die Zahlen verzerrt sind. Das ist auch jedem Wissenschaftler klar", sagt Kristan Schneider, Malaria-Forscher und Professor für Angewandte Mathematik an der Hochschule Mittweida. Die Aussagen Kuhbandners "klingen anfangs sehr überzeugend, doch das macht es so gefährlich". Denn der Psychologe ziehe viele falsche, logische Schlüsse und unterschätze "die Gefahren durch das Corona-Virus komplett".

Durch die Verzerrung der Zahlen sei es laut Kuhbandner verpasst worden, bereits früher Lockerungen der Social-Distancing-Maßnahmen vorzunehmen, die die Menschen stark belasten. Ein weiteres Argument des Psychologen: "Mit der zunehmenden Anzahl an Tests findet man auch zunehmend mehr Neuinfektionen." Um dies zu korrigieren müsse "man die Anzahl der mit einer bestimmten Testanzahl gefundenen Neuinfektionen durch die Testanzahl teilen." Das ergebe, dass die Zahl der Infektionen nicht um das bis zu 27-fache, sondern nur um das 4-fache gestiegen sei – eine exponentielle Ausbreitung also gar nicht vorhanden sei.

Immer mehr Corona-Tests, immer mehr Fälle?

Dabei nimmt Kuhbandner "implizit an, dass nur Personen getestet werden, die mit dem Corona-Virus infiziert sind", erwidert Mathematiker Schneider. "Doch das ist völlig absurd. Denn das kann man ja nicht wissen. Zudem verwechselt er die Inzidenz mit der Prävalenz." Dies sind Schlüsselbegriffe der Epidemiologie. Die Prävalenz gibt Aufschluss über bestehende Fälle, die Inzidenz hingegen über neu auftretende Fälle. Nur auf letzteres zu gehen, sei falsch, erklärt Schneider. Denn die bislang Erkrankten sind weiterhin vorhanden – und eine potenzielle Gefahr. Das müsse in so wichtige Entscheidungen mit einbezogen werden.

Zudem lasse der Psychologe außer Acht, dass bei immer mehr Tests anteilig immer weniger Fälle gefunden werden. Hat man "nur wenige Tests, werden diese bei Hochrisiko-Patienten vorgenommen", erklärt der Fachmann für Modellbildung und Simulation. Es würden nur die Menschen mit Atemwegserkrankungen und deutlichen Symptomen getestet. Dabei fände sich auch automatisch mehr.

Der Sicherheitsaspekt: Ärzte und Pfleger regelmäßig testen

Pflegerinnen und Pfleger sind einem besonderen Risiko ausgesetzt. Bildrechte: imago images/Independent Photo Agency Int.

Mit der Zunahme der Testkapazitäten auf derzeit bis zu 70.000 pro Tag werden nun auch vermehrt die Menschen getestet, die der Gefahr der Ansteckung mit Covid-19 besonders ausgesetzt sind – auch aus Sicherheitsgründen. "So arbeiten allein in Altenpflegeheimen über 700.000 Menschen", sagt Schneider. Ähnlich wie Ärzte und Pfleger in Krankenhäusern müssten diese regelmäßig getestet werden, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Wenn dadurch die Prozente fallen, "nimmt Kuhbandner an, dass nun die Ausbreitung gestoppt ist". Doch das ist nicht so.

Ein weiter Faktor der, laut Kuhbandner, "die Anzahl der Neuinfektionen künstlich nach oben verzerrt", seien andere Krankheitserreger für Atemwegsbeschwerden. Nehmen diese ab, wie nun etwa durch das Ende der Grippesaison, würden prozentual automatisch mehr Menschen positiv auf eine Infektion mit Sars-CoV-2 getestet werden.

RKI: Keine Stellungnahme zu "Fachfremden"

Doch momentan sei es so, dass die Menschen stark sensibilisiert sind, sagt Schneider. "Das müsste er als Psychologe eigentlich wissen." So gingen etwa nur 40 Prozent mehr Menschen in der Grippesaison zum Arzt, wenn sie Symptome wie bei einer Influenza haben. In der Corona-Pandemie sind deutlich mehr Menschen alarmiert, wenn sie etwa einen Hustenreiz verspüren. "Momentan sind Allergien im aufkeimen und die Anzahl der eingebildeten Symptome steigt. Dadurch erwartet man mit mehr Tests prozentual auch mehr negativ Getestete. Mit mehr Tests, auch prozentual mehr zu finden, das stimmt erst dann, wenn die eingebildeten Krankheiten zurück und die Pandemie wirklich richtig losgeht."

Professor Kuhbandner sieht kein einziges der Argumente von Professor Schneider als stichhaltig an und ist von einer extremen Überschätzung der Neuinfektionen überzeugt. Er schreibt an MDR Wissen: "Normalerweise sucht man als fachfremder Wissenschaftler nicht den Weg der Öffentlichkeit, um auf solche Punkte hinzuweisen. Stattdessen versucht man die Fachexperten darauf aufmerksam zu machen." Das habe er seit Anfang April mit Dutzenden Mails an Virologen und Epidemiologen probiert. Doch eine Antwort habe er nie erhalten. Über seinen Beitrag auf bekannten Blogs habe er "die dramatischen negativen Nebenwirkungen der ergriffenen Maßnahmen in den Diskurs einbringen wollen".

"Man findet keine einfachen Antworten auf komplizierte Probleme", resümiert Professor Schneider. Ganz ähnlich sieht dies offenbar auch das RKI. Auf Anfrage von MDR-Wissen schreibt das Institut, dass man sich zu Einzeläußerungen und von "Fachfremden" nicht äußere – auch aus Kapazitätsgründen. "Das RKI hat auch immer wieder darauf hingewiesen, dass die Maßnahmen nicht auf einzelnen Mess- oder Schätzgrößen beruhen", heißt es im Schreiben weiter. Es sei eine Gesamtschau und in die politischen Entscheidungen, wie Aufhebung oder Verschärfung von Ausgangsbeschränkungen, würden natürlich auch viele weitere Aspekte einfließen.

Anmerkung der Redaktion: Wir haben den Artikel aktualisiert und um eine Stellungnahme von Professor Christof Kuhbandner zu den Aussagen von Professor Kristan Schneider erweitert.