ARD Themenwoche Ist Gerechtigkeit angeboren oder anerzogen?
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Gerechtigkeit ist wichtig, weil sie Konflikte verhindert und zufrieden macht. Doch wie werden wir gerecht? Eine Antwort lautet: Gerechtigkeit wird anerzogen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn ein Sinn für Fairness steckt auch schon in uns, wenn wir auf die Welt kommen. Wissenschaftliche Antworten auf eine Grundfrage der menschlichen Evolution.

Zwei Kapuzineräffchen nebeneinander in zwei Käfigen bekommen Belohnungen. Das eine kriegt Gurke und frisst sie. Anschließend bekommt das andere viel leckerere Weintrauben. Danach verweigert das erste Äffchen die Gurke und wirft sie voller Empörung aus dem Käfig. Das wiederholt sich mehrere Male. Dieses Experiment gilt als ein Indiz, dass so etwas wie ein Gerechtigkeitssinn, ein Bedürfnis nach Fairness bereits bei weniger entwickelten Primaten genetisch verankert ist.
Prof. Hans Werner Bierhoff, Sozialpsychologe aus Bochum, sagt dazu: "Wenn wir auf die Frage kommen, was ist durch die Evolution bestimmt, dann können wir sagen: Es scheint hauptsächlich so zu sein, dass wir die Idee mitbringen, dass gleiche Leistung in gleicher Weise belohnt werden sollte."
Fairness ist uns eingebrannt
Mit dieser Vorstellung kommen wir offenbar tatsächlich auf die Welt, ohne dass uns das jemand beibringen muss. Fairness spielt eine so entscheidende Rolle für uns Menschen, dass die Evolution sie in uns eingebrannt hat. Fairness, sagt Prof. Bierhoff, trägt dazu bei, die wichtigste Eigenschaft, die uns von allen anderen Lebewesen unterscheidet, zum Tragen zu bringen: "Es geht darum, Kooperation und Zusammenarbeit zu ermöglichen und diese Kooperation ist sehr erfolgreich und ist ein Erfolgsrezept des Menschen."
Fairness als Überlebensgarantie
Ohne Gerechtigkeit, ohne Fairness würde die Zusammenarbeit einer Gruppe nicht funktionieren. Ohne das faire Teilen der Jagdbeute beispielsweise wären die Gruppen der Jäger und Sammler auseinandergebrochen und weniger erfolgreich gewesen.
Für unsere Spezies Mensch, unseren Erfolg und unser Überleben, ist Kooperation also verpflichtender als für jedes andere Lebewesen, betont auch Prof. Robert Hepach, Entwicklungspsychologe an der Universität Leipzig: "Dadurch, dass wir als Menschen in unserem Alltag viel mehr auf Kooperation angewiesen sind, haben sich psychologische Eigenschaften entwickelt, die Kooperation verbindlicher machen."
Gerechtigkeitssinn schon bei Kleinkindern
Forschungen mit Zwillingen und Kleinkindern liefern weitere Hinweise. So sind bei Kleinkindern von ein bis zwei Jahren Verhaltensweisen festzustellen, die darauf hindeuten, dass Einfühlsamkeit, Verständnis, Hilfsbereitschaft - also alles Voraussetzungen für einen Gerechtigkeitssinn - bereits vorhanden sind, ohne dass kulturelle Einflüsse schon zum Tragen gekommen sind. Prof. Hepach nennt Beispiele: "Sei es bei Einjährigen, die bereitwillig über Zeigegesten, andere informieren, wo wichtige Informationen versteckt sind, sei es bei 18-Monatigen, die Hindernisse aus dem Weg räumen, oder sei es der eigentliche Klassiker - das Trösteverhalten."
Gerechtigkeit und Wohlbefinden
Wie grundlegend Gerechtigkeit für uns ist, zeigt auch die Tatsache, dass unser Wohlbefinden davon abhängt. Eine gute Tat zu vollbringen macht glücklich. Sozialpsychologe Bierhoff nennt dafür ein klassisches Beispiel: "Wenn es in einer Firma so ist, dass die Bezahlung nachvollziehbar ist und im Sinne der Fairness durchgeführt wird, dann sind die Mitarbeiter zufrieden und fühlen sich wohl."
Schon bei Kleinkindern deuten Untersuchungen auf einen Zusammenhang von eigener Gerechtigkeit und Wohlbefinden an. So laufen bereits zweijährige Kinder, nachdem sie anderen geholfen haben, aufrechter, erklärt Entwicklungspsychologe Hepach: "Wir beobachten auch in anderen Studien, dass Kinder sich gut fühlen, wenn sie etwas erreichen, sich dann aber schlechter fühlen, geduckter laufen, wenn das Erreichte auf Kosten anderer ging."
Gerechtigkeit und kulturelle Regeln
Im Laufe des menschlichen Lebens wird das Grundbedürfnis nach Fairness allerdings von den kulturellen Regeln beeinflusst. Je nach Epoche und Kulturkreis wird definiert, was gerecht ist, wie Menschen miteinander umgehen.
Das war im Mittelalter anders als heute, das ist in Asien anders als in Europa, sagt Prof. Hepach: "Das wäre für uns als Art auch problematisch, wenn alles zu 100 Prozent genetisch veranlagt wäre. Denn wir müssen uns ja anpassen. Wenn ich jetzt in eine Gesellschaft hineingeboren werde, in der wieder ganz andere Dinge als gerecht angesehen werden, dann würde ich mich schwer damit tun, wenn es in meinem Verhalten eben nicht die Variabilität hätte, die es braucht, um sich an die kulturspezifischen Umstände anzupassen."
Unterschiedliche Facetten
Lernen, wie Gerechtigkeit funktioniert und jeweils praktiziert wird, das macht unser Verstand möglich. Er führt auch dazu, dass Gerechtigkeit für uns Menschen ganz unterschiedliche Facetten haben kann - und zwar jenseits eines einfachen mathematischen Verteilungsmodells, erklärt Prof. Bierhoff. "Also wir können sagen, wir wollen, dass alle gleich belohnt werden. Oder wir können sagen, dass derjenige mehr erhält, der mehr geleistet hat. Aber wir können auch sagen wir wollen, dass die Personen mehr bekommen, die höhere Bedürfnisse haben."
Persönliche und gesellschaftliche Lernprozesse
Diese unterschiedlichen Verteilungsprinzipien sind Ergebnis persönlicher und gesellschaftlicher Lernprozesse. Rentenansprüche, Siegprämien im Sport sind Ausdruck verschiedenster Formen von Gerechtigkeit. Letztendlich dienen sie dazu, ein reibungsloses Miteinander, reibungslose Kooperation möglich zu machen. Wahrscheinlich gäbe es das nicht in dieser Form, wenn die Natur in uns nicht einen Sinn für Gerechtigkeit, ein Bedürfnis nach Fairness genetisch verankert hätte.
Letztlich ist die Frage, ob Gerechtigkeit angeboren oder anerzogen ist, klar aber nicht eindeutig zu beantworten: Der Sinn für Gerechtigkeit steckt tief in uns, ihn kriegen wir in die Wiege gelegt. Das ist der aktuelle Stand der Forschung. Was dann damit passiert, hängt entscheidend von Erziehung und gesellschaftlichem Umfeld ab.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 12. November 2018 | 07:24 Uhr