Medizin Multiple Sklerose: Epstein-Barr-Virus könnte Hauptursache sein

18. Januar 2022, 12:44 Uhr

MS – Multiple Sklerose gilt als Schockdiagnose für viele junge Menschen. In Schüben führt die unheilbare Krankheit oft zu Einschränkungen der Bewegungsabläufe und des Geistes und nicht selten in den Rollstuhl. Mediziner haben jetzt eine sehr wahrscheinliche Ursache gefunden.

Bewegungsunscharfe Aufnahme eines Mannes, der durch eine Unterführung geht.
Multiple Sklerose ist für viele junge Menschen eine Schockdiagnose, die bis in den Rollstuhl führen kann. Bildrechte: IMAGO

Hoffnung im Kampf gegen die unheilbare Krankheit Multiple Sklerose (MS). Wie Wissenschaftler in den USA jetzt herausfanden, könnte Multiple Sklerose durch eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) verursacht werden. Die Forschenden der "Harvards T.H. Chan School of Public Health" führten dafür eine Studie unter mehr als zehn Millionen jungen Erwachsenen im aktiven Dienst des US-Militärs durch und identifizierten 955, bei denen während ihrer Dienstzeit MS diagnostiziert wurde. Die Ergebnisse wurden im Fachmagazin "Science" veröffentlicht.

These: Das Epstein-Barr-Virus greift Schutzmembran der Nervenzellen an

Multiple Sklerose – kurz MS – ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, bei der sowohl Gehirn als auch Rückenmark von Entzündungen betroffen sein können. Schon lange vermuten Wissenschaftler, dass das Epstein-Barr-Virus (EBV) hauptverantwortlich für die Krankheit sein kann. Die These: Das EBV, das zur Gruppe der Herpesviren gehört und Pfeiffersches Drüsenfieber auslösen kann, greift die Mylenenscheiden an, welche die Nervenzellen in Gehirn- und Rückenmark schützen. Es infiziert sie lebenslang und führt damit zu enormen Beeinträchtigungen der kognitiven und motorischen Fähigkeiten.

Illustration - Zerstörte Myelinschicht menschlicher Neuronen
Diese Grafik zeigt, wie die schützenden Mylenenschichten zerstört werden. Bildrechte: Colourbox.de

Die Multiple Sklerose (MS)

Die Multiple Sklerose (MS) wird auch die "Krankheit der 1.000 Gesichter" genannt. Sie ist eine chronisch entzündliche, nicht ansteckende Erkrankung des zentralen Nervensystems, die mit vielen Symptomen einhergeht, vor allem junge Menschen betrifft und in ihren Verläufen sehr verschieden ausfällt. Sie führt unter anderem zu Muskelschwäche, Müdigkeit, Sehstörungen und kognitiven Einschränkungen und ist nicht heilbar. Der lateinische Name "Encephalomyelitis disseminata" heißt so viel wie "verstreute Hirn- und Rückenmarksentzündung".

Weltweit leiden etwa 2,8 Millionen Menschen an Multipler Sklerose, in Deutschland etwa 120.000 bis 150.000. Die jährliche Neuerkrankungsrate (Inzidenz) beträgt 3,5 bis fünf Erkrankte pro 100.000 Einwohner und stieg in den letzten Jahrzehnten. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer.

Großer Schritt in der Multiple Sklerose-Forschung

"Die Hypothese, dass EBV Multiple Sklerose verursacht, wird von unserer Gruppe und anderen seit mehreren Jahren untersucht. Doch dies ist die erste Studie, die einen zwingenden Beweis für die Kausalität liefert", sagte Alberto Ascherio, Professor für Epidemiologie und Ernährung an der Harvard Chan School und Hauptautor der Studie. "Dies ist ein großer Schritt. Er deutet darauf hin, dass die meisten MS-Fälle durch eine Unterbrechung der EBV-Infektion verhindert werden könnten und dass eine gezielte Bekämpfung von EBV zur Entdeckung eines Heilmittels für MS führen könnte".

Nachweis bislang schwierig

Bislang war es den Forschenden zufolge sehr schwierig den Zusammenhang zwischen dem Virus und der Krankheit nachzuweisen. Etwa 95 Prozent der Erwachsenen sind mit dem Eppstein-Bahr-Virus infiziert. Multiple Sklerose ist jedoch eine relativ seltene Krankheit, deren erste Symptome erst etwa zehn Jahre nach der EBV-Infektion auftreten.

Studie mit Soldaten und Soldatinnen

Um dennoch einen Zusammenhang nachzuweisen, arbeiteten die Forschenden mit dem US-Militär zusammen. Dort werden den jungen Soldatinnen und Soldaten alle zwei Jahre Blutproben entnommen worden. Die Wissenschaftler ermittelten den EBV-Status der Soldaten in den Proben am Anfang Ihres Dienstes und glichen ihn mit MS-Diagnosen während des Militärdienstes ab. Von zehn Millionen jungen Erwachsenen im aktiven Dienst des US-Militärs identifizierten sie 955, bei denen während ihrer Dienstzeit MS diagnostiziert wurde.

Grafische Darstellung des menschlichen Nervensystems.
Multiple Sklerose kriecht überall dorthin, wo Nervenzellen sind und kann dort zu langwierigen Entzündungen führen. Bildrechte: IMAGO

Was passierte genau?

Anhand der Proben und der Auswertung der Daten stellten die Forschenden fest: Soldatinnen und Soldaten mit einer EBV-Infektion haben ein 32-fach höheres Risiko an MS zu erkranken. Der Serumspiegel der sogenannten Neurofilament-Leichtkette, eines Biomarkers für die bei MS typische Nervendegeneration, stieg nur nach einer EBV-Infektion an.

"Die Ergebnisse lassen sich durch keinen bekannten Risikofaktor für MS erklären und deuten auf EBV als Hauptursache für MS hin", erklärte Epidemiologe Ascherio. "Derzeit gibt es keine Möglichkeit, einer EBV-Infektion wirksam vorzubeugen oder sie zu behandeln, aber ein EBV-Impfstoff oder die gezielte Behandlung des Virus mit EBV-spezifischen antiviralen Medikamenten könnte letztendlich MS verhindern oder heilen."

Elektronenmikroskopische Aufnahme eines Nervenquerschnitts
Elektronenmikroskopische Aufnahme eines Nervenquerschnitts. Bildrechte: IMAGO

Großes Interesse in der Fachwelt

In der Medizin stießen die Ergebnisse der Forschungsgruppe auf großes Interesse. Denn ein direkter Zusammenhang einer EBV-Infektion mit MS ermöglicht nun Perspektiven, um Multiple Sklerose zu therapieren und vielleicht auch zu heilen.

"Die Stärke des Papers liegt in der sehr großen Zahl von über zehn Millionen beobachteten Menschen und in der Länge der Studie von etwa 20 Jahren. Damit ist sie die bis jetzt überzeugendste Studie auf dem Gebiet und zeigt eindeutig, dass sich MS ohne EBV-Infektion beinahe nicht entwickeln würde", erklärte Professor Henri-Jacques Delecluse vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg.

Therapien könnten Experten zufolge möglicherweise mit antiviralen Medikamenten oder auch einer Impfung geschehen. "Wie die Autoren anführen, wäre eine prophylaktische Vakzine, die EBV-Infektionen verhindert, ein ideales Mittel, die Entstehung von MS zu minimieren", erklärte Prof. Wolfgang Hammerschmidt vom Deutschen Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt in München. Es sei aber nach dem aktuellen Stand eher unwahrscheinlich, einen Impfstoff mit "solchen überragenden Eigenschaften" zu entwickeln. Realistisch sei eher einen Impfstoff, der das Risiko des Pfeifferschen Drüsenfiebers verhindere.

Weitere Forschung nötig

Professor Klemens Ruprecht, Leiter der Multiple Sklerose Ambulanz am Berliner Uniklinikum Charité spricht sich für weitere Forschungen aus. "Durch welche Mechanismen das EBV an der Entwicklung einer MS mitwirkt, ist derzeit unbekannt. Daher ist die entscheidende wissenschaftliche Herausforderung nunmehr, den Mechanismus zu klären, durch den EBV in der Entstehung der MS eine Rolle spielt."

Die zentrale Frage lautet somit nicht ob, sondern wie EBV an der Entwicklung einer MS beteiligt ist.

Professor Klemens Ruprecht Leiter der Multiple Sklerose Ambulanz am Berliner Uniklinikum Charité

Link zur Studie

"Longitudinal analysis reveals high prevalence of Epstein-Barr virus associated with multiple sclerosis", Kjetil Bjornevik, Marianna Cortese, Brian C. Healy, Jens Kuhle, Michael J. Mina, Yumei Leng, Stephen J. Elledge, David W. Niebuhr, Ann I. Scher, Kassandra L. Munger, Alberto Ascherio.

Finanziert wurde die Studie vom National Institute of Neurological Disorders and Stroke, National Institutes of Health (NS046635, NS042194 und NS103891), der National Multiple Sclerosis Society (PP-1912-35234), der Deutschen Forschungsgemeinschaft (CO 2129/ 1-1), den National Institutes of Health (DP5- OD028145) und dem Howard Hughes Medical Institute.

(kt)