Milch, Joghurt, Butter, Käse und Quark
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Medizin Milchprodukte können Multiple Sklerose verschlimmern

02. März 2022, 15:00 Uhr

Ein Kuhmilch-Protein ruft eine Autoimmunreaktion hervor, die die Nervenzellen schädigt. Das hat eine deutsche Forschungsgruppe bei Mäusen nachgewiesen. Bei Menschen gibt es Hinweise auf einen ähnlichen Mechanismus.

Bei Multipler Sklerose (MS) zerstört das körpereigene Immunsystem die Myelin-Ummantelung der Nervenfasern. Verursacher ist vermutlich das Epstein-Barr-Virus. Die Folgen reichen von Missempfindungen über Probleme beim Sehen bis hin zu Bewegungs-Störungen. Im Extremfall enden die Betroffenen im Rollstuhl.

Und es gibt MS-Patientinnen und -Patienten, die über stärkere Symptome klagen, nachdem sie Kuhmilch-Produkte verzehrt hatten. "Wir hören immer wieder von Betroffenen, dass es ihnen schlechter geht, wenn sie Milch, Quark oder Joghurt zu sich nehmen", sagt Stefanie Kürten vom Anatomischen Institut des Universitätsklinikums Bonn.

Die Professorin für Neuroanatomie gilt als ausgewiesene Expertin für Multiple Sklerose. Mit der Studie begann sie 2018 an der Universität Erlangen-Nürnberg. Vor anderthalb Jahren wechselte sie nach Bonn, wo sie die Arbeiten zusammen mit ihrer Arbeitsgruppe fortsetzte. So wurden Mäusen verschiedene Proteine aus der Kuhmilch injiziert, um herauszufinden, ob es einen bestimmten Bestandteil gibt, auf den die Mäuse mit Krankheitssymptomen reagieren.

Casein

Und tatsächlich wurde ein solcher Bestandteil identifiziert. Casein ist der Protein-Anteil der Kuhmilch, der später zu Käse weiterverarbeitet werden kann (und nicht in die Molke gelangt). Wenn den Mäusen im Labor nun Casein zusammen mit einem Wirkverstärker verabreicht wurde, entwickelten die Tiere danach neurologische Störungen. Unter dem Elektronenmikroskop zeigte sich, dass bei ihnen die Isolierschicht um die Nervenfasern geschädigt war, das Myelin. Diese fettähnliche Substanz verhindert normalerweise Kurzschlüsse und beschleunigt zusätzlich die Reiz-Weiterleitung.

Bei gesunden Mäusen schmiegt sich das isolierende Myelin (schwarz) als kompakte Schicht eng um die Nervenfasern, die Axone.
Bei gesunden Mäusen schmiegt sich das isolierende Myelin (schwarz) als kompakte Schicht eng um die Nervenfasern, die Axone. Bildrechte: AG Prof. Kürten / Universität Bonn

Nach der Casein-Gabe war in den Mäusen die isolierende Hülle massiv durchlöchert. "Als Grund vermuteten wir ähnlich wie in MS-Kranken eine fehlgeleitete Immunreaktion", erklärt Rittika Chunder, die in der Arbeitsgruppe von Prof. Kürten habilitiert und Hauptautorin der Studie ist. "Die körpereigene Abwehr attackiert eigentlich das Casein, zerstört dabei aber auch Proteine, die an der Bildung des Myelins beteiligt sind."

Bei Mäusen, denen Casein injiziert wurde, lockert sich die Struktur des Myelins auf. Es umhüllt die Axone nur noch lose. Manchmal fehlt die Isolierschicht sogar ganz.
Bei Mäusen, denen Casein injiziert wurde, lockert sich die Struktur des Myelins auf. Es umhüllt die Axone nur noch lose. Manchmal fehlt die Isolierschicht sogar ganz. Bildrechte: AG Prof. Kürten / Universität Bonn

Kreuzreaktivität

Zu einer solchen Kreuzreaktivität kann es kommen, wenn sich zwei Moleküle zumindest in Teilen sehr ähneln. Das Immunsystem verwechselt sie dann gewissermaßen miteinander. "Wir haben das Casein mit verschiedenen Molekülen verglichen, die für die Produktion von Myelin wichtig sind", sagt Rittika Chunder. "Dabei sind wir auf ein Eiweiß namens MAG gestoßen. Es sieht dem Casein in manchen Bereichen ausgesprochen ähnlich - so sehr, dass bei den Versuchstieren die Antikörper gegen Casein ebenfalls gegen MAG aktiv waren."

In den Casein-behandelten Mäusen richtete sich die körpereigene Abwehr also auch gegen MAG, wodurch das Myelin destabilisiert wird. Doch inwieweit lassen sich die Ergebnisse auf Menschen mit MS übertragen? Um diese Frage zu beantworten, gab die Forschungsgruppe Casein-Antikörper von Mäusen zu menschlichem Hirngewebe. Tatsächlich reicherten sie sich dort an den Zellen an, die im Gehirn für die Myelin-Produktion verantwortlich sind.

Risiko Kuhmilch für MS-Kranke

Besonders stark auf Casein sprechen der Studie zufolge die B-Zellen im Blut vom MS-Kranken an. B-Zellen sind für die Antikörperproduktion zuständige weiße Blutkörperchen.

Vermutlich haben Betroffene durch Milchkonsum eine Allergie gegen Casein entwickelt. Sobald sie Frischmilchprodukten zu sich nehmen, stellt das Immunsystem massenhaft Casein-Antikörper her. Diese schädigen aufgrund der Kreuzreaktivität mit MAG auch die Myelinschicht um die Nervenfasern. Davon sind allerdings nur MS-Kranke betroffen, die gegen Kuhmilch-Casein allergisch sind.

Illustration - Zerstörte Myelinschicht menschlicher Neuronen
Illustration - Zerstörte Myelinschicht menschlicher Nervenfasern Bildrechte: Colourbox.de

"Wir entwickeln momentan einen Selbsttest, mit dem Betroffene überprüfen können, ob sie entsprechende Antikörper in sich tragen", sagt Prof. Kürten. Zumindest diese Untergruppe solle auf den Konsum von Milch, Joghurt oder Quark verzichten.

Und möglicherweise erhöhe Kuhmilch sogar bei Gesunden das Risiko, an MS zu erkranken. Denn auch bei ihnen kann Casein Allergien auslösen - vermutlich nicht einmal selten. Sobald eine solche Immunantwort besteht, kann es theoretisch zu einer Kreuzreaktivität mit dem Myelin kommen.

Das bedeute allerdings nicht, dass sich bei einer Überempfindlichkeit gegen Casein zwangsläufig eine Multiple Sklerose entwickle, betont die Professorin. Dazu seien vermutlich noch weitere Risikofaktoren erforderlich. Beunruhigend sei dieser Zusammenhang dennoch, so Kürten: "Studien zufolge sind die MS-Zahlen in Bevölkerungsgruppen erhöht, in denen viel Kuhmilch konsumiert wird."

Link zur Studie

Die Studie wurde in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift "Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America" (PNAS) unter dem Titel "Antibody cross-reactivity between casein and myelin-associated glycoprotein results in central nervous system demyelination" veröffentlicht.

(rr/idw)