Das Märchen vom Adipositas-Paradoxon Schon wenig Übergewicht erhöht Herz-Kreislauf-Risiko

16. März 2018, 15:21 Uhr

Klingt unlogisch, soll aber angeblich so sein: Ein paar Pfunde zuviel auf den Hüften sind gut für die Gesundheit. Dieses vielzitierte Adipositas-Paradoxon ist ein Mythos, der dem ein oder anderen bisher eine gute Ausrede für das zweite Stück Sahnetorte lieferte. Doch damit ist jetzt Schluss: Eine Studie von schottischen Wissenschaftlern hat diesen Mythos nun eindeutig widerlegt. Denn demnach ist schon minimales Übergewicht problematisch für unser Herz-Kreislaufsystem.

Die Ergebnisse der Untersuchung von Forschern der Universität Glasgow sind deutlich: Schon geringes Übergewicht erhöht das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen. Das heißt, dass übermäßige Pfunde verstärkt zu Herzinfarkten, Herzschwäche und Schlaganfällen führen. Die Forscher um Erstautorin Stamatina Iliodromiti haben ihre Untersuchung im Fachblatt "European Heart Journal" veröffentlicht und betonen, dass ihre Ergebnisse einen weit verbreiteten Mythos widerlegen: das Adipositas Paradoxon.

Je weniger Fett, insbesondere um den Bauch, desto geringer das Risiko für spätere Herzerkrankungen.

Dr. Stamatina Iliodromiti, Universität Glasgow

Das Forscherteam um Iliodromiti hat für ihre Studie fast 300.000 Menschen über einen langen Zeitraum analysiert. Zu Beginn der Studie - zwischen 2006 und 2010 - waren die Probanden zwischen 40 und 69 Jahre alt und gesund. Die Forscher verfolgten ihre Entwicklung bis zum Sommer 2015. Bei der Auswertung der gesammelten Daten berücksichtigten sie auch andere Einflussfaktoren wie zum Beispiel Bluthochdruck oder Rauchen.

Adipositas-Paradoxon Als Adipositas-Paradoxon wird ein vermeintliches Phänomen bezeichnet, das besagt, dass übergewichtige bzw. adipöse Patienten bei bestimmten Erkrankungen im Vergleich zu Normalgewichtigen die besseren Überlebenschancen haben. Überflüssige Funde sind demzufolge vor allem bei älteren Menschen vorteilhaft, die sich fit halten. Ob dieses Paradoxon tatsächlich existiert wird in der Medizin immer wieder kontrovers diskutiert

Die Untersuchung der Schotten zeigt: Das geringste Risiko, Herz-Kreislauferkrankungen zu bekommen, hatten die Probanden mit einem Körper-Masse-Index (BMI) zwischen 22 und 23. Das ist deutlich unter dem Wert für Übergewicht, denn das beginnt der Definition der Weltgesundheitsorganisation zufolge erst bei einem BMI von 25. Ab einem BMI von 30 spricht man von Fettleibigkeit.

Der Studie zufolge steigt die Wahrscheinlichkeit für Herz-Kreislauferkrankungen linear: Ein Anstieg des BMI-Wertes um 5,2 Punkte sorgt bei Frauen für ein um 13 Prozent erhöhtes Risiko. Bei Männern reicht ein BMI-Unterschied von 4,3 Punkten für einen gleichen Risikoanstieg. Einen besonders schädlichen Einfluss scheint dabei das Bauchfett zu haben: Das geringste Risiko fanden die Forscher bei Frauen mit einem Taillenumfang von 74 Zentimetern. Mit jedem Zuwachs um 12,6 Zentimeter stieg die Gefahr, Probleme mit dem Herz-Kreislaufsystem zu bekommen, um 16 Prozent. Bei den Männern lag der ideale Taillenumfang bei 83 Zentimetern. Das Erkrankungsrisiko stieg hier pro 11,4 Zentimeter um zehn Prozent. Bauchfett gilt gemeinhin als besonders problematisch, weil es im Gegensatz zu Fettpolstern direkt unter der Haut verstärkt entzündungsfördernde Botenstoffe freisetzt, die die Blutgefäße schädigen.

Aus ihren Ergebnissen schlussfolgert Erstautorin Iliodromiti, dass der Mythos des gesunden Übergewichts wahrscheinlich nicht stimmt. "Das ist die größte Studie, die dem Adipositas-Paradoxon bei gesunden Menschen widerspricht", sagt die Forscherin. Allerdings könne das bei Menschen mit bestimmten Erkrankungen auch anders sein. So gebe es Belege dafür, dass leichtes Übergewicht bei Krebspatienten mit einem geringen Risiko verbunden ist. Das ist insofern nahe liegend, da vor allem Chemotherapien zu einem bedenklichen Gewichtsverlust führen können.

Wie berechne ich den BMI? Der Körper-Masse-Index (engl. Body-Mass-Index BMI) beschreibt das Verhältnis von Körpergröße zu Gewicht. Er wird mit einer einfachen Formel berechnet:

Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch Körpergröße in Metern zum Quadrat - kurz: kg / m²

In individuellen Fällen, kann das Ergebnis des BMI nicht aussagekräftig sein - wie zum Beispiel bei Sportlern, die durch ihre Muskelmasse einen höheren BMI erreichen, aber trotzdem nicht übergewichtig sind.

Die schottischen Forscher führen in ihrer Untersuchung aus, dass es insbesondere für viele ältere Menschen schwierig ist, den BMI im Normalbereich zu halten. Deshalb sei ihre Botschaft: Schon wer wenige Kilos abnimmt, fördert die Gesundheit. Dies sei umso wichtiger, da WHO-Daten zeigten, dass fast die Hälfte der erwachsenen Weltbevölkerung übergewichtig sei - Tendenz steigend.

Bei den deutschen Fachkollegen stoßen die Untersuchungsergebnisse auf großes Interesse. Denn "die Studie greift einen Aspekt auf, der seit Jahren durch die Literatur geistert", sagt etwa Nikolaus Marx, Leiter der Kardiologie am Uniklinikum Aachen.

Anhand dieser Daten kann man das Adipositas-Paradoxon so nicht mehr stehen lassen. Wer dicker ist, hat ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen. Wenn man dann ein bisschen abnimmt, kann das nur gut sein.

Doch um das Adipositas-Paradox endgültig zu widerlegen, müsse das Resultat noch in weiteren großen Studien bestätigt werden, sagt Marx. Doch er ist optimistisch: "Die wird es geben, und dann ist die Behauptung vom Tisch." Denn Übergewicht ist nicht nur schlecht für das Herz-Kreislaufsystem, erklärt der Mediziner, sondern erhöht auch das Risiko für Bluthochdruck, Stoffwechselstörungen wie Diabetes und sorgt für Probleme des Bewegungsapparates.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 15. März 2018 | 17:45 Uhr