Kuscheln, Massagen, Hautbalsam Die Wirkung von Berührungen wird unterschätzt

19. Juni 2019, 14:14 Uhr

Die Haut ist unser größtes Organ und braucht Berührungen wie wir die Luft zum Atmen. Aber warum fällt uns das so schwer und warum kuscheln wir so wenig? Ein Ausflug in die Geschichte der Berührung und ihrer Erforschung.

Eigentlich braucht der Mensch Berührungen wie die Luft zum Atmen: Haben wir die nicht oder zu wenig, gehen wir ein wie Primeln. Erstaunlich spät hat die Wissenschaft das weite Feld der Berührungen und ihrer Wirkung für sich entdeckt - immerhin ist die Haut das größte menschliche Organ.

Die US-amerikanische Professorin Tiffany Field wies in den 1980er-Jahren in Studien nach, dass Frühchen, die massiert wurden, besser Gewicht zulegten als die, die nicht massiert wurden. Field gründete 1982 in Miami in Florida ein Institut, das seither in Studien die Wirkung von Berührungen erforscht. Field zufolge wirken Massagen nicht, weil sie dafür sorgen, dass man sich wohlfühlt. Sie sagt: "Massagen funktionieren, weil sie die komplette Physiologie verändern."

An der Universität Leipzig wird seit 1996 die Wirkung von Berührungen erforscht. Psychologe Martin Grunwald, der an der Uni seit 1996 die Wirkungsweise des Tastsinns erforscht, geht soweit zu sagen: "Die"

Die Wirtschaft hat das Bedürfnis früh erkannt

Lange vor der Wissenschaft dagegen hat die Wirtschaft Berührungen als Bedürfnis erkannt, mit dem sich Geld verdienen lässt, denn der Mangel an Berührung ist eine gewaltige Marktlücke. Der moderne Mensch kauft sich Berührungen in vielen Formen, man denke nur an die unendlich vielen Typen von Massagen:

Fußreflexzonenmassagen, Massagen mit heißen Steinen oder Klangschalen, mit heißer Schokolade oder Honig. Es gibt Kurse für Baby- oder Partnermassagen, oder Kuschelpartys. Daneben der gewaltige Markt der Hilfsmittel für Berührungen: Es gibt ein Meer an Körperpflege-Produkten, Schwämme zum Abschrubben, Peelings für die Gesichtshaut, Cremeseifen, Körperlotionen und Öle zum Einmassieren. Bis hin zu den verlängerten "Händen" aus Holz, mit denen man sich selbst Rücken oder Kopfhaut massieren kann - unendlich viele Ersatzprodukte für eine Gesellschaft, in der Berührung Mangelware oder tabu ist.

Dabei reduziert beispielsweise Kuscheln Stress und wirkt entspannend. Durch Berührungen wird das Bindungshormon Oxytocin frei gesetzt. Das wirkt wie ein natürliches Antidepressivum. Auch Serotonin wird freigesetzt, das unser Immunsystem stimuliert, wie Wissenschaftler der Carnegie Mellon University in Pittsburgh 2014 herausfanden: Leute, die häufiger umarmt wurden, bekamen seltener Erkältungen als die Studienteilnehmer, die seltener umarmt wurden.

Kuscheln wie die Profis

Kein Küssen, kein Sex, einfach nur Berührungen, in der Geschwindigkeit und Art und Weise, wie es der Kundschaft behagt: professionelle Kuschler arbeiten mit klaren Regeln.

Ein Mann und eine Frau auf einem Bett
Bildrechte: Jeremy James Becker/Elisa Meyer
Ein Mann und eine Frau auf einem Bett
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Ein Mann und eine Frau auf einem Bett
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Zwei Frauen liegen aneinandergekuschelt nebeneinander.
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Mann und Frau liegen aneinandergekuschelt da.
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Ein Mann und eine Frau auf einem Bett
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Kuscheln
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Kuscheln als Dienstleistung

Langhaarige Frau mit zwei Kuscheltieren im Arm
Dr. Elisa Meyer Bildrechte: Jeremy James Becker/Elisa Meyer

Auch Dr. Elisa Meyer in Leipzig ist sich sicher, dass Kuscheln eine starke Wirkung hat. Die promovierte Germanistin und Philosophin bietet professionelle Kuscheldienste an, 60 Minuten Kuscheln für 60 Euro. Ihre Kundschaft besteht zu 80 Prozent aus Männern und 20 Prozent Frauen, alle erwachsen, irgendwo im kuschelfreien Nirvana zwischen zwischen 18 und 80 Jahren.

Sie sagt: "Diese Menschen schweben wie in einer Seifenblase so durch die Gegend. Also sie sind quasi unberührt die ganze Zeit. Und irgendwann fällt das auf." Alle ihre Kunden kämpfen mit Einsamkeit, meint Elisa Meyer - und zwar unabhängig von Alter, Beruf oder Geschlecht.

Aber warum fällt uns Berühren so schwer?

Aber warum eigentlich? Es könnte das lange Erbe der nationalsozialistischen Erziehung sein, in der Härte alles, Trost und Weichheit tabu waren für ein Volk, das "hart wie Kruppstahl" werden sollte. In der Großmütter weinende Enkel nicht trösten oder streicheln sollten, damit sie nicht "verweichlichen". So schrieb es der Erziehungsratgeber von Johanna Haarer vor. In ihrem Bestseller "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" gab sie vor, Mütter sollten Säuglinge nach der Uhr alle vier Stunden stillen, und nicht, wenn sie Hunger hätten. Mütter sollten weinende Babies in ein anderes Zimmer legen, auf dass man sich keinen "kleinen Tyrannen" züchte. Der Ratgeber wurde unter geändertem Titel bis Anfang der 1980er-Jahre verlegt.

Fehlende Erfahrung?

Kuscheln als lebensnotwendiges Bedürfnis, als Teil des menschlichen Wesens – wer das nicht vorgelebt und selbst erfahren hat, wie kann er es an die nächste Generation weitergeben oder es bei sich selbst auch nur als zutiefst menschliches Bedürfnis anerkennen? Leichter wird es auch nicht dadurch, dass viele Menschen alleine wohnen, in Deutschland waren 2016 immerhin 41 Prozent aller Haushalte Single-Haushalte. England hat für das Einsamkeits-Phänomen inzwischen sogar ein eigenes Ministerium eingerichtet. Hand in Hand mit der Einsamkeit gehen oftmals auch psychische Erkrankungen – ein Teilaspekt davon ist vielleicht auch der Berührungsmangel.

Blick von hinten auf eine Person, die alleine durch einen Park spaziert.
Bildrechte: Christin Pomplitz

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | Spezial | 19. Juni 2019 | 18:00 Uhr