Deutscher Diversity-Tag Prothesen: Mehr als nur ein Ersatz

26. Mai 2020, 12:38 Uhr

Prothesen sind eine Errungenschaft für all jene, die durch Krankheit oder Unfall Gliedmaßen verlieren. Sie zeigen, was Technik heute alles schon kann und erinnern uns manchmal an Science-Fiction-Filme, wenn man sie etwa mit Gedanken oder per App steuern kann. Doch Prothesen sind nicht nur technischer Support - sie machen auch etwas mit der menschlichen Psyche. Damit, wie Menschen sich selbst - und Andere sie sehen.

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Prothese 5 min
Bildrechte: TU Chemnitz/ Jacob Müller

Bertolt Meyer ist ohne linken Unterarm auf die Welt gekommen. Seit elf Jahren trägt er eine bionische Handprothese. Sechs Elektro-Motoren sorgen dafür, dass die Bewegungen der Finger möglichst natürlich sind. Meyers Prothese fällt auf.

Viele Menschen gucken einfach. Und die meisten versuchen einfach so zu gucken, dass sie denken, dass ich es nicht merke, dass sie gucken. Aber ich merke es ja trotzdem. Am besten sind Kinder. Die gucken richtig und machen dann auch gerne mal: Mama, Mama, guck mal, was der Mann da hat, und so. Aber ich finde das nicht so schlimm. Ehrlich gesagt - ich würde wahrscheinlich auch gucken.

Prof. Bertolt Meyer, TU Chemnitz

Signal, sich nicht für Behinderung zu schämen

Auch wenn die Leute hinsehen - Meyer trägt ganz bewusst keinen hautfarbenen Gummi-Handschuh. So einen, der einer natürlichen Hand nachempfunden ist. Denn der sendet nach außen das Signal, dass man sich für seine Behinderung schämt.

Das ist nicht nur sein persönliches Empfinden, sondern Ergebnis wissenschaftlicher Forschung. Meyer ist Psychologie-Professor an der TU Chemnitz und beschäftigt sich damit, was Prothesen mit Menschen machen. Mit denen, die sie tragen - und mit denen, die auf sie reagieren.

Wenn man eine Prothese trägt, die versucht, die Prothese zu zu verstecken, dann reagieren die Leute häufig mit Mitleid. Und wenn man eine Prothese trägt, die eher so ein bisschen Sci-Fi-mäßig aussieht, ist es eher so ein positiv gefärbtes Interesse: Boa, das ist ja krass - zeig mal, was hast du denn da?!

Bertolt Meyer

Gleichzeitig Techniker und Patient

Eyad Faheds Prothese fällt den wenigsten auf, denn meistens trägt er eine lange Hose. Seinen rechten Unterschenkel hat Fahed im syrischen Bürgerkrieg verloren. Einige Monate später ist der heute 28-Jährige nach Deutschland gekommen. Im September 2015, mit einer schlechtsitzenden Prothese. Wie sich das angefühlt hat, weiß er noch genau.

Ich konnte nicht laufen, weil das Gerät nicht passte. Mein Knie, meine Haut taten weh.

Eyad Fahed, Prothesen-Techniker

Angekommen in Chemnitz, hat er nach einem Prothesentechniker gesucht - und bei Saxcare nicht nur den, sondern auch einen Arbeitsplatz gefunden. Fahed arbeitet mit Praktikum und Ausbildung inzwischen seit drei Jahren hier. Wenn etwas an seiner Prothese geändert werden muss, macht er das einfach selbst. Er ist also gleichzeitig Techniker und Patient.

Aber als solchen sieht er sich eigentlich nicht. "Wo ist das Problem? Ich bin wie du", sagt Fahed. Er könne genauso in den Supermarkt gehen, Schwimmen und seinen Hobbys wie etwa dem Tanzen nachgehen.

Sprinter mit Beinprothese, auf einer Landstraße
Im Sport sind Menschen mit Prothesen nicht behinderten Sportlernteilweise schon überlegen. Bildrechte: imago images/Westend61

Prothesen bieten auch psychologischen Vorteil

Auch Bertolt Meyer würde sich nicht als Patienten bezeichnen. Erst recht nicht, seitdem er seine bionische High-Tech-Prothese trägt. Denn die hat den Bezug zu seiner eigenen Behinderung verändert, sein Selbstbewusstsein gestärkt.

So geht es vielen, die ähnliche Prothesen tragen wie er. Und nicht nur das: Auch Menschen ohne Behinderung sehen Menschen, die eine bionische Prothese tragen, mit anderen Augen.

Unsere Forschung zeigt, dass für Menschen mit Behinderung eine Prothese nicht nur einen funktionalen Vorteil bietet, weil man damit mehr Sachen kann. Sondern auch einen psychologischen. Weil die Prothese ein Stück weit das Stigma, was mit Behinderung assoziiert ist, kompensiert.

Bertolt Meyer

Diversität wirkt sich auf Arbeit in Teams aus

Eyad Fahed hat selbst auch die Erfahrung einer Amputation gemacht. Er weiß, wie es ist, ein Körperteil zu verlieren, kann die Ängste und Anliegen der Patienten gut nachvollziehen - auch ohne Worte. Wenn er eine Prothese für jemanden anfertigt, habe er schon 70, 80 Prozent verstanden, ohne dass er mit dem Patienten geredet hat, erzählt der Syrer.

Aber auch in anderen Berufen hat es immer eine Auswirkung auf die Arbeit, auf die Dynamik im Team, wenn Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung sich begegnen.

Das ist auf der einen Seite spannend und kann gut für die Arbeit sein. Wenn unterschiedliche Menschen am Tisch sitzen, heißt das auch, dass sie alle unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben. Und damit auch einen unterschiedlichen Blick auf die Aufgabe - und wenn die Aufgabe kompliziert ist, und einer weiß die Lösung nicht, dann weiß sie vielleicht jemand anders.

Bertolt Meyer

Aber nicht immer mögen wir die Vielfalt im Beruf und die Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderungen, weiß der Wissenschaftler aus seiner Forschung. "Und die Herausforderung ist eben, dass wir am Arbeitsplatz unsere Firma, unsere Abläufe und unsere Prozesse so gestalten, dass die Chancen überwiegen und die Risiken minimiert werden", resümiert Prof. Meyer.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Umschau | 26. Mai 2020 | 20:15 Uhr