Wahlbeteiligung in Sachsen Nichtwähler: Die Skepsis gegenüber der Demokratie ist gewachsen

23. August 2019, 11:43 Uhr

Wären die Nichtwähler eine Partei, sie würde fast überall die Mehrheit stellen. Seit 1990 hat sich bei den Landtagswahlen in Sachsen die Zahl der Nichtwähler fast verdoppelt. Doch warum gehen so viele Menschen nicht zur Wahl?

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Gäbe es eine "Partei der Nichtwähler", hätte sie seit Jahren die Mehrheit in den meisten deutschen Parlamenten. Warum wählen so viele Menschen nicht?

MDR FERNSEHEN Di 20.08.2019 12:39Uhr 03:46 min

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"Nein, wir gehen nicht wählen", erklären zwei junge Männer aus dem Dresdner Stadtteil Gorbitz und schütteln dabei vehement ihre Köpfe. "Warum sollten wir? Das ändert doch sowieso nichts an der Politik", erklären sie dem Kamerateam des MDR. Sie stehen stellvertretend für knapp zwei Millionen Menschen, die sich in den vergangenen Jahren in Sachsen nicht an den Wahlen beteiligt haben. Die einfach nicht gegangen sind, ihre Stimme verschenkt haben - oder schlichtweg kein Vertrauen hatten, dass ihre Entscheidung am Großen und Ganzen doch irgendetwas ändern könne.

Zwei junge Männer
"Warum sollten wir zur Wahl gehen?", fragen diese jungen Männer. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Landtagswahl 2014: 1,7 Millionen verzichteten auf Stimmrecht

Die Zahl der Menschen, die zu den Landtagswahlen nicht gewählt haben, hat sich in Sachsen seit 1990 fast verdoppelt. Während 1990 etwa eine Million Wahlberechtigte ihr Wahlrecht nicht nutzten, verzichteten 2014 - 24 Jahre später - etwa 1,7 Millionen Sachsen auf ihr Stimmrecht. Angenommen die Nichtwähler wären eine Partei, würde sie fast überall die Mehrheit stellen - und hätte in Sachsen die regierende CDU längst überholt. Das ergeben Zahlen des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung (ZVD) der TU Dresden.

"In Sachsen ist in den letzten Jahren die politische Entfremdung gewachsen", erklärt Professor Hans Vorländer, Politikwissenschaftler und Leiter des ZVD dem MDR. "Die Skepsis gegenüber der Funktionsfähigkeit der Demokratie ist gewachsen." Deswegen seien in den vergangenen Jahren nicht mehr so viele Menschen zur Wahl gegangen. Seit 2004 lasse sich dieser Trend ganz klar ablesen.

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Wären die Nichtwähler eine Partei, hätte sie die CDU in Sachsen schon seit vielen Jahren überholt. Bildrechte: TU Dresden/ZVD

Nur 67 Prozent wählen Dresdner Stadtrat

Am 1. September wird in Sachsen ein neues Parlament gewählt. Entscheidungen für Parteien und Politiker können die zukünftige Politik des Freistaats beeinflussen. Doch bei vielen Sachsen herrscht anscheinend Wahlmüdigkeit. Dass viele Menschen ihr Stimmrecht nicht nutzen, hat sich auch im Frühjahr dieses Jahres bei den Dresdner Stadtratswahlen gezeigt. Durchschnittlich gingen 67 Prozent der Menschen zur Wahl. Immerhin ein deutlicher Anstieg zur Kommunalwahl 2014, als nur 53 Prozent der Dresdner wählen gingen. Aber in einigen Stadtteilen lag die Wahlbeteiligung auch 2019 sogar unter 50 Prozent.

Dresden Gorbitz: Jeder Zweite verzichtet auf Wahlrecht

Im Dresdner Stadtteil Gorbitz-Süd gaben nur 46 Prozent der Wahlberechtigten ihr Votum. Nicht einmal jeder Zweite sah dort einen Sinn darin, einer Partei oder einem Politiker ihre Stimme zu geben. "Die Menschen, die hier wohnen sind mit ihrem Leben und dem, was in diesem Land passiert, völlig unzufrieden", erklärt ein Mann mittleren Alters und streift mit seinen Augen die umliegenden Wohnblöcke.

In wohlhabendem Stadtteil wählen mehr Menschen                      

Eine Frau
Die Bewohnerin aus Dresden-Pappritz will wählen, um mit zu entscheiden. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Doch nicht überall in Dresden sah die Beteiligung an den Wahlen zum Stadtparlament so mau aus, wie in Gorbitz. Im Dresdner Stadtteil Gönnsdorf/Pappritz gingen im Frühjahr 78 Prozent zur Wahl. In dem Stadtteil wohnen viele Eigenheimbesitzer, Menschen aus dem gutsituierten Mittelstand und auch der Oberschicht. Die Arbeitslosenquote liegt bei 0,7 Prozent. "Wer nicht wählen geht, muss nehmen, was gewählt wurde. Also will ich schon meinen Anteil daran haben", sagt eine Bewohnerin aus Gönnsdorf/Pappritz. Eine andere Dame erklärt: "Ich halte es für wichtig, dass man im Gemeinwesen auch seinen Pflichten nachkommt und jeder etwas für das Gemeinwesen tut. Und das Mindeste, was man tun kann, ist wählen zu gehen." Die Chance der Wahl nicht zu nutzen. Kann sich ein Mann mittleren Alters aus dem Ortsteil überhaupt nicht vorstellen. "Nichtwähler waren wir zu DDR-Zeiten, weil es da sowieso nur eine Wahl gab", erklärt er. "Aber jetzt möchte man schon gehen."

Zusammenhang zwischen Wohngebieten und Wahlbeteiligung

Doch welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem Wohnort und der Wahlbeteiligung? Je höher die Arbeitslosigkeit und je prekärer die Situation der Menschen, desto weniger gehen sie zur Wahl - das sagen wissenschaftliche Studien und zeigen jetzt die Recherchen des MDR. Weil Menschen in prekären Situationen weniger wählen würden, seien ihre Interessen auch weniger stark in den Parlamenten vertreten. "Deshalb werden ihre Belange auch weniger deutlich vertreten", erklärt Politikwissenschaftler Vorländer.

Teufelskreis für prekäre Wähler

Die Analyse klingt nach einem Teufelskreis: Wer nicht wählen geht, wird von der Politikern weniger berücksichtigt. Und wer sich dann ausgeschlossen fühlt, geht dann erst recht nicht wählen. "Das kann zu Protest führen, wenn sich einige Menschen nicht vertreten oder gehört fühlen, gehen sie auf die Straße. Das kennen wir in Sachsen und in Dresden", sagt Wissenschaftler Vorländer.

Wenn Menschen auf der Straße protestieren beginnt oft eine neue Dynamik. Werden Themen öffentlich heißt diskutiert, steigt das Politikinteresse wieder. Ob diese erstmals seit vielen Jahren auch zu einer höheren Wahlbeteiligung führt, werden die Landtagswahlen am 1. September zeigen.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR um Zwei | 20. August 2019 | 13:59 Uhr