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Archäologinnen graben bei ihrer Arbeit in Oakington Cambridgeshire ganz vorsichtig eine komplizierte dreifache Bestattung aus. Die drei verstorbenen Frauen waren nicht miteinander verwandt. Bildrechte: Prof. Dr. Duncan Sayer

ArchäogenetikVom Kontinent nach England: Gen-Analyse zeigt Massenmigration über die Nordsee

22. September 2022, 12:51 Uhr

Es war offenbar eine regelrechte Masseneinwanderung: Ein interdisziplinäres Forschungsteam aus Genetik und Archäologie hat herausgefunden, dass im frühen Mittelalter zahlreiche Menschen von den Nordseeküsten des heutigen Deutschlands, Dänemarks und der Niederlande in den Osten Englands ausgewandert sind. Die Überreste dieser Migranten und ihrer Nachfahren zeugen von einer der größten Umwälzungen der nachrömischen Zeit und liefern Erkenntnisse über den Genpool der englischen Bevölkerung.

Die Geschichte der Britischen Inseln und Irlands ist geprägt von Perioden großer kultureller Veränderungen. Eine davon war die Zeit, nach der die Römer, das Gebiet verlassen hatten. Damals kam es unter anderem zu Veränderungen in Sprache, Siedlungsmustern, Architektur oder Landwirtschaft. Welche Rolle dabei die Migration aus Kontinentaleuropa gespielt hat, war aber lange ein Rätsel der Geschichte: Gelehrte im heutigen England schrieben jedenfalls rund 300 Jahre nach den Römern über die Einwanderung von Angeln und Sachsen.

Aber was war das für ein Ereignis? Welches Ausmaß hatte die Migration nach England und welche Auswirkungen auf die dortige Bevölkerung? Ein interdisziplinäres Forschungsteam aus 70 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unter Leitung des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie konnte nun durch genetische Untersuchungen einige Antworten liefern.

Frühes angelsächsisches Grab mit Keramikgefäß, Broschen und einem römischen Löffel. Dieses Grab aus Oakington Cambridgeshire beherbergte eine Frau gemischter Abstammung. Bildrechte: Prof. Dr. Duncan Sayer

Migrationsbewegung über die Nordsee

Das Forschungsteam hat 278 Genome von Menschen, die im frühen Mittelalter in England gelebt haben, und Hunderte weitere aus Kontinentaleuropa - datiert zwischen 200 und 1300 n. Chr. - analysiert, erklärt der Erstautor der Studie, Joscha Gretzinger, und ergänzt: "und konnten faszinierende Einblicke in die Bevölkerungsgeschichte und die Geschichte einzelner Menschen aus der Zeit nach dem Zusammenbruch des römischen Reichs gewinnen."

Wir haben jetzt nicht nur eine Vorstellung vom Ausmaß der Migration, sondern auch davon, wie sie Gemeinschaften und Familien beeinflusst hat.

Joscha Gretzinger, Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Die Analyse zeigte den Forschenden, dass es eine massive Migrationsbewegung nach England gegeben haben muss. Die Bevölkerung in Ost- und Südengland habe zu etwa 75 Prozent aus Einwandererfamilien bestanden, deren Vorfahren aus Kontinentaleuropa stammten. Ganz konkret stammten sie aus an die Nordsee grenzenden Regionen in den heutigen Niederlanden, Deutschland und Dänemark. Das Forschungsteam kann ihre Herkunft ganz genau bestimmen, denn im Vergleich mit veröffentlichten genetischen Daten von mehr als 4.000 damals und 10.000 heute lebenden Europäerinnen und Europäern konnten Gretzinger und sein Team kleinste genetische Unterschiede zwischen den eng verwandten Gruppen feststellen.

Vermischung mit lokaler Bevölkerung

Die Zuwanderung vom Kontinent erweiterte den Genpool der lokalen Bevölkerung, schreibt das Forschungsteam. Denn die Einwandererfamilien vermischten sich mit den Einheimischen. Das sei jedoch von Region zu Region und von Gemeinde zu Gemeinde in unterschiedlichem Maße passiert, wie die genetischen Analysen der Skelette zeigen.

Im Fall eines angelsächsischen Gräberfelds aus Buckland bei Dover konnten die Forschenden sogar einen Stammbaum über mindestens vier Generationen hinweg rekonstruieren. Und sie können genau sagen, zu welchem Zeitpunkt sich Migranten und Einheimische vermischt haben. In dieser Familie seien die beiden Genpools stark vertreten gewesen. Und die Toten wurden offenbar auch gleichrangig bestattet: Auf den untersuchten Friedhöfen gab es dem Team zufolge sowohl einheimische als auch migrantische Elitebestattungen.

Rekonstruktion eines Stammbaums, der die Integration lokaler Abstammung in eine Einwandererfamilie verdeutlicht: Der genetische Stammbaum von 13 miteinander verwandten Personen aus dem Gräberfeld Buckland bei Dover. Männliche Personen sind als Quadrate, weibliche als Kreise dargestellt. Bildrechte: NATURE CC-BY

Das Forschungsteam hat die neuen genetischen Erkenntnisse anschließend mit archäologischen Daten verknüpft, um noch mehr über das Leben der Menschen im England des frühen Mittelalters zu erfahren. Sie konnten etwa zeigen, dass Grabbeigaben wie etwa Schmuckstücke häufiger bei eingewanderten Frauen vorhanden waren. Einheimische Frauen wurden deutlich seltener auf diese Weise bestattet. Bei den Männern jedoch seien diejenigen, die Waffen als Grabbeigabe bekommen haben, etwa gleich häufig migrantische und einheimische Personen gewesen. Für die Bestattung hat es offenbar auch keinen Unterschied gemacht, ob und wie stark die Gene von Einwanderern und Einheimischen sich vermischt hatten: Über die gesamte Bandbreite hinweg seien Elitebestattungen oder reich ausgestattete Grabstätten beobachtet worden.

Von Integration bis zu sozialer Abgrenzung

Besonders spannend sind die großen lokalen Unterschiede, wie offenbar von Ort zu Ort mit der Masseneinwanderung umgegangen wurde. "Wir entdeckten teils erhebliche Unterschiede, wie sich diese Migration auf die Gemeinschaften auswirkte, sagt etwa Duncan Sayer, Archäologe an der University of Central Lancashire und einer der Hauptautoren der Studie. An einigen Orten seien deutlich Anzeichen für eine aktive Integration zwischen Einheimischen und Einwanderern zu sehen - so wie etwa im Fall von Buckland bei Dover oder Oakington in Cambridgeshire. Ein ganz anderes Bild zeige sich dagegen zum Beispiel in Apple Down in West Sussex: Hier wurden die Menschen mit eingewanderten Vorfahren getrennt von denen mit einheimischen Vorfahren bestattet. "Vielleicht ist dies ein Beleg für eine gewisse soziale Abgrenzung beider Gruppen voneinander an diesem Ort", so Sayer.

Archäologinnen graben in Oakington Cambridgeshire einen erwachsenen Mann aus. Er ist mit einem Messer begraben worden. Bildrechte: Prof. Dr. Duncan Sayer

Doch das ist längst Geschichte. Heute ist die DNA der Migranten längst ein großer Teil des englischen Genpools. Dem Team ist es nämlich sogar gelungen, die Auswirkungen dieser historischen Migration auf die heutige Zeit zu untersuchen. Und demnach stammen rund 40 Prozent des Erbguts von heute lebenden Engländerinnen und Engländern von diesen kontinentaleuropäischen Vorfahren ab.

Weitere etwa 20 bis 40 Prozent stammen womöglich aus dem heutigen Frankreich oder Belgien. Das lasse sich anhand von archäologischen Skelettfunden und Grabbeigaben nachweisen, wie sie unter anderem in Kent gefunden wurden, so die Forschenden. Doch wie diese zusätzliche Abstammungslinie nach England gekommen ist, ist noch unklar. "Wir sehen eine Verwandtschaft dieser Linie mit Frankreich und anderen Ländern südlich des Ärmelkanals", sagt Max-Planck-Forscher Stephan Schiffels. "Sie könnte mit punktuellen Ereignissen wie der normannischen Eroberung Englands im Zusammenhang stehen, oder aber auch das Ergebnis jahrhundertelanger Mobilität über den Ärmelkanal hinweg gewesen sein."

Link zur Studie

Joscha Gretzinger et al.:The Anglo-Saxon migration and the formation of the Early English gene pool. Nature, 21 September 2022. DOI: 10.1038/s41586-022-05247-2.

(kie)

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