BrückeneinsturzCarolabrücke: "Heute Nacht haben wir ein unkontrolliertes Versagen des Bauwerks erlebt"
Warum die Carolabrücke in Dresden teilweise einstürzte, ist noch unbekannt. Klar ist nur: Die Brücke war zwar ein für ihre Zeit sehr hochwertiges Bauwerk, ihre Konstruktion hat aber mindestens eine Schwachstelle.
Der Einsturz der Dresdner Carolabrücke kam vollkommen unerwartet, für die zuständigen Behörden, aber auch für Experten wie Manfred Curbach, der als Professor an der TU Dresden arbeitet und Partner in einem Ingenieurbüro ist. In beiden Funktionen ist er in die Aufarbeitung des Unglücks von Dienstagnacht eingebunden. "Meines Wissens gab es keine Anzeichen für den Einsturz", sagt er. Denn der eigentlich aus drei Brücken bestehende Bau wurde konstant überwacht. Durch die jahrelange Sanierung der anderen beiden Brückenteile war das Bauwerk bereits intensiv untersucht und auch regelmäßig geprüft worden. Allerdings hat die Konstruktion der gesamten Brücke eine Schwachstelle.
Spannbetonbrücke: Wie ein zusammengedrückter Bücherstapel
In ihrer Entstehungszeit war die Carolabrücke ein prominentes Bauwerk, bei dem keine Kosten und Mühen gescheut wurden. Ende der 1960er-Jahre war sie eine der ersten Hohlkastenspannbeton-Brücken der DDR. Diese Bauart gilt sowohl als schlank als auch stabil. Die Brücke sollte sich in das weltberühmte Dresdner Elbpanorama einfügen und keine Sichtachsen zerstören.
Konkret enthält sie einerseits einen sogenannten Hohlkasten. Würde man sie wie einen Laib Brot in der Mitte durchschneiden, würde man einen rechteckigen Tunnel im Querschnitt sehen. Dieser Tunnel ist begehbar, was die Wartung erleichtert. Zugleich tragen seine hohen Wände zur Statik bei.
Die wird auch von den Spannelementen hergestellt, die die Brücke zusammendrücken. "Das kann man sich so vorstellen, wie einen Stapel aus zehn Büchern, den man aus dem Regal nimmt. Man übt Druck auf die äußeren beiden auf und braucht die inneren nicht zu berühren. Dennoch kann man den gesamten Stapel aus dem Regal nehmen", erklärt der Ingenieur.
Gerberträger: Durch statische Bestimmtheit kündigt er schwere Fehler nicht an
Das Problem ist der sogenannte Gerberträger. Das ist ein Stahlträger, der auf verschiedenen Lagern liegt und die gesamte Brücke überspannt. "Das ist eine Konstruktion, die würden wir heute nicht mehr bauen, weil sie keine Redundanz liefert", erklärt er. Das Bauteil sei statisch bestimmt. Konkret bedeutet das, dass es sein Versagen nicht durch eine Verformung ankündigt.
"Ein statisch unbestimmtes System kann sich umlagern. Man kann das auf den Fotos sehen bei den Brückensegmenten, die auf der Neustadtseite liegen", sagt er. Dort sei das Bauteil nun stark durchgebogen. Eine gefährliche Situation, die allerdings schwere Probleme der Brücke ankündigt, bevor sie zusammenbricht.
"Bei heutigen Entwürfen wollen wir sehen, dass ein auftretender Fehler in der Konstruktion keine Konsequenzen an anderen Stellen der Brücke hat", erklärt Curbach. Baue man eine Brücke so, verforme sie sich zunächst, bevor sie ganz versagt. "Was wir heute Nacht gesehen haben, war dagegen ein unkontrolliertes Versagen".
Instabilität könnte auch in den beiden sanierten Brückenteilen schlummern
Ein Problem, das auch bei den beiden sanierten, noch stehenden Brückenteilen existiert. "Die statische Konstruktion wurde bei der Sanierung nicht verändert", sagt der Ingenieur. Die Vollsperrung sei also dringend notwendig. "Es könnte sein, dass auch in den beiden anderen Brückenzügen noch ein ähnliches Problem versteckt vorliegt", sagt er. Das müsse jetzt sehr genau untersucht werden. "Wir müssen die Materialien dort bergen und die Risse genau ansehen. Man kann an der Art der Risse genau ablesen, was die Ursache war."
Spekuliert wurde am Dienstag, dass Chloride, also im Winter verstreutes Streusalz, in die Konstruktion eingedrungen sind und die Spannelemente erreicht haben. Eine andere Möglichkeit sei eine durch einen Spannungsriss eingeleitete Korrosion. Beides ist noch reine Vermutung. Klar ist nur, dass die heutigen Belastungen einer Brücke nicht mehr dem entsprechen, was ihre Erbauer in den 1960er-Jahren vorausberechnet haben. Die Verkehrslasten sind deutlich höher, weil mehr Autos fahren und sie schwerer geworden sind. Die Brücken müssen deshalb regelmäßig verstärkt werden. Ein anderes Problem ist der Klimawandel: Häufiger auftretende Stürme verstärken die Windlast auf das Bauwerk. Noch größer ist das Problem, wenn Hochwasser wie 2002 oder 2013 auf die Brückenpfeiler und ihre Fundamente drückt. Sind diese nicht richtig gesichert, kann das Fundament unterspült werden, was dann ebenfalls einen Teileinsturz auslösen könne.
Größte Gefahr durch Hochwasser: Unterspülung der Brückenfundamente
Ein solches Unterspülen der Fundamente ist aus Curbachs Sicht die größte Gefahr am kommenden Wochenende, wenn in Folge starker Regenfälle in Polen und Tschechien ein Elbehochwasser droht. "Die Wahrscheinlichkeit, dass der jetzt im Wasser liegende Träger weggespült wird, ist sehr gering, denn das Segment ist sehr schwer", schätzt der Brückenexperte ein. "Kritischer ist, dass der nun im Wasser liegende Brückenteil wie ein Damm wirkt. Er verringert den Wasserabflussquerschnitt. Das bedeutet, dass im Bereich des noch intakten Brückenteils das Wasser mit höherer Kraft drückt und schneller fließt. "Dort müssen wir unbedingt die Fundamente der Brücke schützen."
All das muss wie die Stabilisierung der verbliebenen Brückenteile schnell gehen. Erst danach kann beurteilt werden, ob die beiden sanierten Brückensegmente repariert und wieder freigegeben werden können. Dort ist eines der Probleme: Das mittlere Segment war mit dem abgestürzten Teil durch einen Querträger verbunden. Der ist beim Absturz durchgerissen, übte beim Fall aber enorme Kraft auf das mittlere Segment aus. Das könnte dort schwere Schäden verursacht haben.
Worst Case: Kompletter Neubau der Carolabrücke notwendig
Für den abgestürzten Teil sieht Manfred Curbach keine Möglichkeit einer Sanierung. "Hier muss neu gebaut werden." Im schlimmsten Fall sei das auch bei den anderen beiden verbliebenen Brückensegmenten der Fall.
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | 11. September 2024 | 16:10 Uhr
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