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BrückeneinsturzCarolabrücke: "Heute Nacht haben wir ein unkontrolliertes Versagen des Bauwerks erlebt"

25. September 2024, 08:57 Uhr

Warum die Carolabrücke in Dresden teilweise einstürzte, ist noch unbekannt. Klar ist nur: Die Brücke war zwar ein für ihre Zeit sehr hochwertiges Bauwerk, ihre Konstruktion hat aber mindestens eine Schwachstelle.

Der Einsturz der Dresdner Carolabrücke kam vollkommen unerwartet, für die zuständigen Behörden, aber auch für Experten wie Manfred Curbach, der als Professor an der TU Dresden arbeitet und Partner in einem Ingenieurbüro ist. In beiden Funktionen ist er in die Aufarbeitung des Unglücks von Dienstagnacht eingebunden. "Meines Wissens gab es keine Anzeichen für den Einsturz", sagt er. Denn der eigentlich aus drei Brücken bestehende Bau wurde konstant überwacht. Durch die jahrelange Sanierung der anderen beiden Brückenteile war das Bauwerk bereits intensiv untersucht und auch regelmäßig geprüft worden. Allerdings hat die Konstruktion der gesamten Brücke eine Schwachstelle.

Spannbetonbrücke: Wie ein zusammengedrückter Bücherstapel

In ihrer Entstehungszeit war die Carolabrücke ein prominentes Bauwerk, bei dem keine Kosten und Mühen gescheut wurden. Ende der 1960er-Jahre war sie eine der ersten Hohlkastenspannbeton-Brücken der DDR. Diese Bauart gilt sowohl als schlank als auch stabil. Die Brücke sollte sich in das weltberühmte Dresdner Elbpanorama einfügen und keine Sichtachsen zerstören.

Konkret enthält sie einerseits einen sogenannten Hohlkasten. Würde man sie wie einen Laib Brot in der Mitte durchschneiden, würde man einen rechteckigen Tunnel im Querschnitt sehen. Dieser Tunnel ist begehbar, was die Wartung erleichtert. Zugleich tragen seine hohen Wände zur Statik bei.

Die wird auch von den Spannelementen hergestellt, die die Brücke zusammendrücken. "Das kann man sich so vorstellen, wie einen Stapel aus zehn Büchern, den man aus dem Regal nimmt. Man übt Druck auf die äußeren beiden auf und braucht die inneren nicht zu berühren. Dennoch kann man den gesamten Stapel aus dem Regal nehmen", erklärt der Ingenieur.

Gerberträger: Durch statische Bestimmtheit kündigt er schwere Fehler nicht an

Das Problem ist der sogenannte Gerberträger. Das ist ein Stahlträger, der auf verschiedenen Lagern liegt und die gesamte Brücke überspannt. "Das ist eine Konstruktion, die würden wir heute nicht mehr bauen, weil sie keine Redundanz liefert", erklärt er. Das Bauteil sei statisch bestimmt. Konkret bedeutet das, dass es sein Versagen nicht durch eine Verformung ankündigt.

"Ein statisch unbestimmtes System kann sich umlagern. Man kann das auf den Fotos sehen bei den Brückensegmenten, die auf der Neustadtseite liegen", sagt er. Dort sei das Bauteil nun stark durchgebogen. Eine gefährliche Situation, die allerdings schwere Probleme der Brücke ankündigt, bevor sie zusammenbricht.

"Bei heutigen Entwürfen wollen wir sehen, dass ein auftretender Fehler in der Konstruktion keine Konsequenzen an anderen Stellen der Brücke hat", erklärt Curbach. Baue man eine Brücke so, verforme sie sich zunächst, bevor sie ganz versagt. "Was wir heute Nacht gesehen haben, war dagegen ein unkontrolliertes Versagen".

Fotogalerie Der Einsturz der Carolabrücke in Dresden: Bilder des Unglücks

Spezialgeräte machen sich in der Nacht zum Freitag am Beton der Carolabrücke zu schaffen Bildrechte: Erik Hoffmann
Erst nach der Sprengung kann der eigentliche Abriss des durchhängenden Brückenteils beginnen. Bildrechte: Wiebke Müller
Auf der Altstädter Seite beobachten Menschen die Arbeiten an der Unglücksstelle. Bildrechte: Lucas Görlach
Hunderte Schaulustige sind Donnerstagabend am Elbufer unterwegs, um einen Eindruck von den Abrissarbeiten der Carolabrücke zu erhaschen. Bildrechte: MDR/Wiebke Müller
Am Donnerstagabend beginnen die Abrissarbeiten an der zerstörten Brücke. Zuerst werden die Versorgungsleitungen getrennt. Dazu kommt ein Schneid-Spreng-Verfahren zum Einsatz. Bildrechte: Nils Bula
Michael Klahre von der Feuerwehr Dresden ist an der Brücke im Dauereinsatz und informiert Pressevertreter und Bevölkerung. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
Der Straßenbahnverkehr ist durch den Brückeneinsturz beeinträchtigt. Linien werden über den Postplatz und die Augustusbrücke umgeleitet. Bildrechte: picture alliance/dpa | Robert Michael
Untersuchungen an der Brücke haben weitere Schäden ergeben. So senkt sich nach Angaben der Leiterin des Straßen- und Tiefbauamts Dresden, Simone Prüfer, auch der mittlere Zug B der Brücke. Bildrechte: imago/Lurisu
Ein Unterbau stützt den nicht eingestürzten Teil der Carolabrücke. Bildrechte: picture alliance/dpa | Robert Michael
In der Nacht zum Donnerstag wurde das Bauwerk gesichert. Bildrechte: IMAGO / Sylvio Dittrich
Hell erleuchtet liegt der abgebrochene Teil der Carolabrücke in der Elbe. Bildrechte: IMAGO / Sylvio Dittrich
Das THW und die Feuerwehr begutachten den Schaden. Bildrechte: picture alliance/dpa | Robert Michael
Schiffe der Weißen Flotte in Dresden mussten in Sicherheit gebracht werden. Bildrechte: picture alliance/dpa | Robert Michael
Aus der Luft wird das Ausmaß des Einsturzes deutlich. Bildrechte: picture alliance/dpa | Robert Michael
Die Einsatzkräfte haben nach dem Einsturz die Lage sondiert und das weitere Vorgehen. Dabei kommt an der Elbbrücke auch eine Drohne zum Einsatz. Bildrechte: xcitepress
Hier sieht man eine der Abbruchkanten an der Carolabrücke aus der Nähe. Bildrechte: Marko Förster
Nach Angaben der Feuerwehr ereignete sich das Unglück gegen 3 Uhr morgens am Mittwoch. Bildrechte: picture alliance/dpa | Robert Michael
Menschen stehen am Elbufer und schauen auf den eingestürzten Brückenteil. Bildrechte: xcitepress
Der Teil, auf dem die Straßenbahn die Elbe quert, liegt im Wasser. Deshalb werden einige DVB-Linien umgeleitet. Bildrechte: picture alliance/dpa | Robert Michael
Die Polizei hat auch das Terrassenufer gesperrt. Bildrechte: MDR/Axel Köhn
Mit Booten wurde am frühen Mittwochmorgen das Wasser unter der Brücke kontrolliert, ob nicht doch Menschen oder tiere zu Schaden kamen. Diese Schäden blieben zum Glück aus. Bildrechte: xcitepress/christian essler
Schon am Morgen versammelten sich Menschen, um sich die eingestürzte Brücke aus der Nähe anzuschauen. Bildrechte: MDR/Axel Köhn
Die Dresdner zeigen sich erschrocken über den Einsturz der Brücke. "Wir Menschen denken, alles beherrschen zu können - das ist aber nicht so", sagt ein Passant zu MDR SACHSEN. Bildrechte: picture alliance/dpa | Robert Michael
Laut Feuerwehr wurde niemand verletzt. Die Polizei geht aktuell von einem Unglück aus und warnt vor Fake News im Internet. Bildrechte: picture alliance/dpa | Robert Michael
Das Dampfschiff "Meissen" der Weißen Flotte liegt direkt am Anlieger am Brückepfeiler der gesperrten Carolabrücke. Der Dampfer muss demnächst aus dem Gefahrenbereich. Aktuell ist die Elbe in dem Abschnitt gesperrt. Bildrechte: picture alliance/dpa | Robert Michael
Die Polizei hat rund um die Carolabrücke die Straßen gesperrt. Durch den Einsturz fällt mit der B170 über die Elbe eine wichtige Verkehrsverbindung weg. Bildrechte: Marko Förster
Die Straßenbahnlinien am Carolaplatz sind von der Sperrung betroffen und müssen umgeleitet werden. Bildrechte: xcitepress/christian essler
Der eingestürzte Brückenzug der Carolabrücke in Dresden sollte im Jahr 2025 saniert werden. Die beiden anderen Züge wurden in den vergangenen Jahren saniert, die Brücke erst im März 2024 wieder vollständig für den Verkehr freigegeben.  Bildrechte: MDR/Heiko Barthel
Steffen Marx, Professor für Ingenieurbau an der TU Dresden, hat im Gespräch mit MDR SACHSEN die Vermutung geäußert, dass die Wetterlage in den Kollaps der Carolabrücke hineingespielt haben könnte. Bildrechte: picture alliance/dpa/Robert Michael
Der frühere Leiter des Straßen- und Tiefbauamtes Dresden, Reinhard Koettnitz, geht von einer langwierigen Untersuchung zum Teileinsturz der Carolabrücke aus.  Bildrechte: IMAGO / dts Nachrichtenagentur
An der Brücke herrscht weiterhin akute Einsturzgefahr. Deswegen ist sie weiterhin weiträumig abgesperrt. Bildrechte: IMAGO / jmfoto
Die Polizei geht von einem Unglück aus. Ein Sprecher erklärte, es gebe bisher keine Hinweise auf Fremdeinwirkungen. Bildrechte: IMAGO / jmfoto

Instabilität könnte auch in den beiden sanierten Brückenteilen schlummern

Ein Problem, das auch bei den beiden sanierten, noch stehenden Brückenteilen existiert. "Die statische Konstruktion wurde bei der Sanierung nicht verändert", sagt der Ingenieur. Die Vollsperrung sei also dringend notwendig. "Es könnte sein, dass auch in den beiden anderen Brückenzügen noch ein ähnliches Problem versteckt vorliegt", sagt er. Das müsse jetzt sehr genau untersucht werden. "Wir müssen die Materialien dort bergen und die Risse genau ansehen. Man kann an der Art der Risse genau ablesen, was die Ursache war."

Spekuliert wurde am Dienstag, dass Chloride, also im Winter verstreutes Streusalz, in die Konstruktion eingedrungen sind und die Spannelemente erreicht haben. Eine andere Möglichkeit sei eine durch einen Spannungsriss eingeleitete Korrosion. Beides ist noch reine Vermutung. Klar ist nur, dass die heutigen Belastungen einer Brücke nicht mehr dem entsprechen, was ihre Erbauer in den 1960er-Jahren vorausberechnet haben. Die Verkehrslasten sind deutlich höher, weil mehr Autos fahren und sie schwerer geworden sind. Die Brücken müssen deshalb regelmäßig verstärkt werden. Ein anderes Problem ist der Klimawandel: Häufiger auftretende Stürme verstärken die Windlast auf das Bauwerk. Noch größer ist das Problem, wenn Hochwasser wie 2002 oder 2013 auf die Brückenpfeiler und ihre Fundamente drückt. Sind diese nicht richtig gesichert, kann das Fundament unterspült werden, was dann ebenfalls einen Teileinsturz auslösen könne.

Größte Gefahr durch Hochwasser: Unterspülung der Brückenfundamente

Ein solches Unterspülen der Fundamente ist aus Curbachs Sicht die größte Gefahr am kommenden Wochenende, wenn in Folge starker Regenfälle in Polen und Tschechien ein Elbehochwasser droht. "Die Wahrscheinlichkeit, dass der jetzt im Wasser liegende Träger weggespült wird, ist sehr gering, denn das Segment ist sehr schwer", schätzt der Brückenexperte ein. "Kritischer ist, dass der nun im Wasser liegende Brückenteil wie ein Damm wirkt. Er verringert den Wasserabflussquerschnitt. Das bedeutet, dass im Bereich des noch intakten Brückenteils das Wasser mit höherer Kraft drückt und schneller fließt. "Dort müssen wir unbedingt die Fundamente der Brücke schützen."

All das muss wie die Stabilisierung der verbliebenen Brückenteile schnell gehen. Erst danach kann beurteilt werden, ob die beiden sanierten Brückensegmente repariert und wieder freigegeben werden können. Dort ist eines der Probleme: Das mittlere Segment war mit dem abgestürzten Teil durch einen Querträger verbunden. Der ist beim Absturz durchgerissen, übte beim Fall aber enorme Kraft auf das mittlere Segment aus. Das könnte dort schwere Schäden verursacht haben.

Worst Case: Kompletter Neubau der Carolabrücke notwendig

Für den abgestürzten Teil sieht Manfred Curbach keine Möglichkeit einer Sanierung. "Hier muss neu gebaut werden." Im schlimmsten Fall sei das auch bei den anderen beiden verbliebenen Brückensegmenten der Fall.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | 11. September 2024 | 16:10 Uhr

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