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OrientierungLassen Navi und Maps unseren Orientierungssinn verkümmern?

26. August 2022, 12:01 Uhr

Sommerzeit heißt Reisezeit! Doch wie finden Sie eigentlich den richtigen Weg zum Urlaubsort? Wie navigieren Sie durch fremde Städte, orientieren Sie sich auf unbekannten Wanderrouten und wie finden Sie den Weg zurück zum Hotel? Ganz klassisch mit Stadtplan und Wanderkarte? Oder lassen auch Sie sich einfach und bequem vom Navi leiten? Ein Alltag ohne digitale Routenplaner und Navigationshilfen scheint kaum mehr vorstellbar. Doch lässt all die Technik unseren Orientierungssinn verkümmern?

von Maike zum Hoff und Thomas Jähn

Was, wenn das Navi ausfällt?

Unsere modernen Navigationssysteme auf dem Smartphone oder im Auto sind schon verdammt praktisch. Gerade wenn die Zeit knapp, die Wege lang und die Streckenführung undurchsichtig sind: Ziel eingeben, Route wählen und los geht's! Und so liegt bei vielen von uns der dicke Straßenatlas seit Jahren unangetastet in der Beifahrertür des Autos. Doch was ist, wenn das Smartphone mal kein Netz hat, der Akku leer oder das Navi im Auto eine Macke hat? Wie orientieren wir uns dann?

Und wenn wir dann wieder mal von skurrilen Meldungen hören, denen nach Menschen blindlings dem Navi gefolgt und anschließend über Hafenkanten direkt ins Wasser gesteuert sind, oder, ohne es zu merken, stundenlang mehrere Hundert Kilometer in die entgegengesetzte Richtung fahren, kommt die Frage auf, ob unser natürlicher Orientierungssinn durch all die Technik verkümmert oder gar verschwindet?

Bildungspsychologe Stefan Münzer beschreibt unseren Umgang mit Navis als "bedenklich aber heilbar". Bildrechte: MDR/Stefan Münzer

"Und woran liegt es? Es liegt daran, dass sie keine Ahnung haben, wo sie lang fahren", sagt Bildungspsychologe Stefan Münzer von der Universität Mannheim, der seit Jahren zum Orientierungssinn forscht. "Weil sie keine mentale Karte im Kopf haben, wie Deutschland und die Autobahnen da gestrickt sind, weil sie sich das nie angeguckt haben und gar nicht merken, dass sie hier in die falsche Richtung fahren für ihr Ziel."

Unser Orientierungssinn ist Nobelpreisträger

Orientierung ist vor allen Dingen Kopfsache. Und ein Meilenstein für die Forschenden auf diesem Gebiet war der Medizin-Nobelpreis 2014. Den bekamen damals zwei Wissenschaftler und eine Wissenschaftlerin für die Erforschung unseres körpereigenen Navigationssystems. Und die Grundlage dafür war die Entdeckung der sogenannten Ortszellen im Gehirn von Nagetieren.

"Das sind einzelne Zellen im Hippocampus, die immer dann feuern, wenn das Tier an einem bestimmten Ort ist", erklärt Christian Doeller, Psychologe und geschäftsführender Direktor des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. "Und das Faszinierende ist, wenn das Tier wieder an den gleichen Ort zurückgeht, feuern die gleichen Zellen wieder an den gleichen Orten." Es bildet sich also eine Art Ortsgedächtnis.

Christian Doeller, Psychologe und geschäftsführender Direktor des MPI CBS untersucht, wie das menschliche Denken mit unserer räumlichen Orientierung zusammenhängt. Bildrechte: MDR/Kavli Institute for Systems Neuroscience, Trondheim, Norway

Im Verlauf wurden immer weitere Zelltypen entdeckt, die sich für unsere Orientierung verantwortlich zeigen: Da gibt es zum Beispiel Kompasszellen, die sich merken, in welche Richtung wir uns bewegen. Es gibt Zellen, die codieren Wände und Hindernisse, so genannte boundary cells. Und es gibt Gitterzellen, die die Raumstruktur scannen und daraus eine Art 3-D-Modell unserer Umgebung erstellen. "Und zusammen ist das ein ganzer Zoo an Raum-Codierungszellen, die im Prinzip die biologische, neuronale Grundlage des Orientierungssinns bilden“, so Doeller.

Unser Gehirn zeichnet mentale Karten

Doch damit nicht genug. Denn schon seit längerer Zeit gibt es die Theorie, dass im Hippocampus noch viel mehr passiert.

Die Idee ist, dass dieses Hippocampus-Navigationssystem mit den Ortszellen und all den anderen Zellen eine mentale Karte der Umgebung darstellt.

Prof. Dr. Christian Doeller, Psychologe und geschäftsführender Direktor des MPI CBS Leipzig

Orientierung ist also ein Zusammenspiel aus Bewegung und Erinnerung. Das heißt, wir laufen Wege nicht einfach nur ab, sondern unser Gehirn speichert entlang dieser Wege noch Unmengen an Informationen zusätzlich – und packt sie in unsere mentale Karte. Stück für Stück wächst dieses komplexe Kartennetz immer weiter. Und das geht richtig schnell, denn prinzipiell reicht eine einzige Erfahrung, um etwas abzuspeichern.

"Und diese mentale Karte wird aber nicht nur zum Navigieren benutzt, sondern repräsentiert noch viel mehr in unserer Umgebung", erklärt Doeller. Er und sein Team forschen daran, wie diese mentalen Karten quasi die Basis für viele andere höhere kognitive Prozesse sein könnten, etwa kreative Problemlösungen oder den Erwerb von Wissen und sogar Sprache.

Geschlechterunterschiede? Nur ein Vorurteil!

Doch wie kommt es, dass manche Menschen recht schnell den Weg aus den Augen verlieren, während andere immer genau wissen, wo es langgeht. Wie kommt das? Der oft zitierte Unterschied zwischen Männern und Frauen scheint für Bildungspsychologe Stefan Münzer dabei nur ein Vorurteil zu sein.

Es gibt Aufgaben, die Männer besser lösen. Und es gibt aber auch räumliche Aufgaben, die Frauen besser lösen.

Prof. Dr. Stefan Münzer, Bildungspsychologe an der Universität Mannheim

Laut Studienlage sind Männer beispielsweise besser im sogenannten Pointing, also im Richtungen-Zeigen. Das heißt, nachdem sie eine virtuelle oder reale Umgebung erkundet haben, werden sie verortet und sollen dann aufzeigen, in welcher Richtung sich bestimmte andere Orte befinden. Und Männer schneiden auch besser beim sogenannten mentalen Rotieren ab. "Dabei hat man beispielsweise einen Würfel vor sich, den man dreht und soll dann beurteilen: Könnte der andere Würfel, der daneben gezeigt wird, mit seinen Farben oder Buchstaben da drauf aus einer Rotation des ersten Würfels hervorgegangen sein oder geht das nicht?"

Stereotype: Männer trauen sich mehr zu als Frauen

Frauen sind wiederum besser bei etwas, was als Object-Location Memory bezeichnet wird. "Das kennt man vielleicht auch aus dem Alltag, dass Frauen wirklich besser wissen, wo hat man den Schlüssel abgelegt, wo finde ich dieses und jenes, wo war dieser und jener Laden in dieser Straße, da sind Frauen besser."

Also je nachdem, was man für Aufgaben stellt oder wie man mit Raum umgeht, finden wir unterschiedliche Vorteile bei beiden Geschlechtern oder auch keine Unterschiede. Doch warum das so ist, das wissen die Forschenden bislang nicht. Eine Vermutung: Stereotype. Bei Untersuchungen wird nämlich auch immer abgefragt, wie sich die Studienteilnehmenden eigentlich selbst einschätzen und dabei fällt klar auf: Männer trauen sich immer ein gutes Stück mehr zu als Frauen. Das muss am Ende aber gar nicht unbedingt stimmen, denn dabei wird sich auch gerne mal überschätzt.

Die Pfade der Kindheit prägen unseren Orientierungssinn

Null Punkte also für die Klischee-Forschung! Und das bedeutet, unser Orientierungsvermögen hat keine rein genetische Ursache, sondern wird – wie so oft – durch eine bunte Mischung aus Genetik, Umwelteinflüssen und unserer Sozialisation bestimmt.

Und wer sich hierbei selbst als Landei bezeichnen würde, liegt laut Wissenschaft klar im Vorteil. Denn die Umgebung, in der wir aufwachsen, prägt unsere Orientierungsfähigkeit im Erwachsenenalter. "Wir wissen zum Beispiel, dass in der Kindheit das Explorieren in echten Umgebungen, also sprich: auf dem Dorf rausrennen und sich die Umgebung mit eigener Navigation erobern, sehr viel hilft, später eine Sicherheit und auch ein Selbstvertrauen zu entwickeln, dass man auch in einer unbekannten Umgebung besser zurechtkommt."

Es braucht auch mal Navi-Detox

Wir müssen also selbst aktiv werden, uns selbst bewegen, die Wege selbst gehen und die Entscheidung ob links oder rechts selbstständig treffen. Nur so lässt sich unser Orientierungssinn trainieren und kann sich gut entwickeln.

Es ist eine Kompetenz, eine Art mentale Fitness, die ich trainieren muss wie einen Muskel.

Prof. Dr. Stefan Münzer, Bildungspsychologe an der Universität Mannheim

"Bedenklich aber heilbar", so würde Münzer unseren Umgang mit Navis beschreiben. "Wenn Sie sich die ganze Zeit vom Navi führen lassen und ihnen das auch bestimmte Informationen einfach gar nicht zur Verfügung stellt, die nützlich wären, dann werden Sie daraus auch nichts lernen." Dennoch bezweifelt er, dass allein die Technik unseren natürlichen Orientierungssinn verkümmern oder gar verschwinden lässt.

Stattdessen rät der Bildungspsychologe, den Geräten nicht einfach nur blind zu folgen, sondern die digitalen Assistenzsysteme kritisch zu hinterfragen, ihre Schwächen zu erkennen und selbst mitzudenken: "Ich gucke mir immer einen Routenplaner an und mache mir mental schon so eine kleine Etappen-Idee: Wo geht's lang? Wie lang müsste es dauern? Wo komme ich vorbei? Und dann kann ich im Navi das Ziel eingeben und sehe: Okay, plant es den gleichen Weg? Und dann kann ich das Navi immer ein bisschen mit prüfen, ob ich noch richtig bin."

Es ist einfach ein gutes Gefühl, nicht lost zu sein, sondern zu wissen: Okay, ich könnte mich auch ohne Navi orientieren und ich weiß, in welcher Richtung ich unterwegs bin.

Prof. Dr. Stefan Münzer, Bildungspsychologe an der Universität Mannheim

Und Tipp Nummer zwei: Das Navi einfach mal öfter ausgeschaltet lassen und den Weg eigenständig gehen. Denn so wird das Orientierungs-Wissen komplett anders abgespeichert. "Dann sind Sie es aktiv gegangen, Sie haben es aktiv verarbeitet und dann werden Sie es auch wieder wissen. Was das Gedächtnis einmal aktiv hat generieren müssen, vergisst es nicht mehr so schnell. Und wenn Sie es dann nochmal aktiv wiederholen, bildet sich ein sicheres, abrufbares Wissen."

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