Psychologie DDR-Forschung: Wie Traumata Generationen überleben

04. August 2021, 09:30 Uhr

Das Echo totalitärer System hallt lange nach. Ein Forschungsteam aus Leipzig, Jena, Rostock und Magdeburg untersucht, welche Langzeitfolgen Überwachung, Verhöre und Zersetzung bis heute verursachen.

Politische Verfolgung macht krank. Nicht nur in dem Moment, in dem Unrecht geschieht. Das Echo des erlebten Unrechts hallt lange nach, körperlich wie seelisch. Schlimmstenfalls gräbt es sich tief in das Leben der Betroffenen ein. Doch was wissen wir eigentlich darüber, welche Langzeitfolgen Erfahrungen wie Überwachung, ungewollte Teilnahme an medizinischen Experimenten, Zersetzungsmaßnahmen haben? Genau das will ein Forschungsverbund mit Spezialisten aus Leipzig, Magdeburg, Rostock und Jena herausfinden.

Einer der Spezialisten ist Professor Dr. Jörg Frommer. "Ich weiß zum Beispiel aus Begutachtungen, dass vor Gericht Folgeschäden politischer Inhaftierungen nicht anerkannt wurden. Weil das Gericht über historisch einwandfrei belegte Haftzustände nicht informiert war." Wenn ein Jahr Haft in Hoheneck oder Bautzen II gleichgesetzt wurde mit einem Jahr in einem Gefängnis von heute. Das ist kein neues Phänomen in der Justiz-Geschichte: Wer weiter zurück geht in der Historie, stößt auf Parallelen. Frommer verweist auf Holocaust-Entschädigungsprozesse, in denen gerichtlich abgestritten wurde, dass ein Aufenthalt im Konzentrationslager Bergen-Belsen etwas mit dem Verlust der Familie zu tun hatte.

Unerkannt: Krankheiten als Traumatisierungs-Folge

Man könnte nun auch sagen, das ist alles lange her, Kamellen von gestern. Muss man die immer wieder durchkauen? Mit Blick auf die Folge-Generation(en) ist das durchaus sinnvoll.

Mann in schwarzem Hemd
Prof. em. Dr. Jörg Frommer, Sprecher des Forschungsverbundes Bildrechte: Melitta Schubert

Professor Frommer: "Früher dachte man, das sei wie bei posttraumatischen Belastungsstörungen, mit Flashbacks, wenn dramatische Erlebnisse wieder erlebt werden. Bei schwerer Traumatisierung geht das über eine lange Zeit. Für politisch traumatisierte Menschen stimmt das nicht. Wir konnten das ganze Spektrum psychischer Erkrankungen nachweisen, bis hin zur Suizid-Gefährdung. Körperliche Erkrankungen wie Herz-Kreislauf, Schmerzsyndrome."

Bei diesem Personenkreis geht es nicht nur um isolierte einzelne Gesundheitsschäden, führt der Facharzt für Psychiatrie aus, sondern um komplexe Mehrfacherkrankungen mit inzwischen jahrzehntelangem Verlauf. Die Hilfesuchenden stehen genau wie das Medizinpersonal dann vor einem Rätsel in der Diagnose. Oder wie Frommer sagt: "Betroffene erfahren dann oft zweites Unrecht durch unsachgemäße Diagnostik, Beratung, Behandlung, Begutachtung und Uninformiertheit auf Seiten mancher Ansprechpartner."

Wie Traumata Persönlichkeiten verändern

Die körperlichen Schäden sind das eine, die seelischen die anderen. Frommer zählt auf: "Da ist die schleichende Veränderung der Persönlichkeit. Rückzugverhalten mit Misstrauen gegenüber Menschen und Institutionen, eine Abwendung von der Realität. Ein Verlust an Vertrauen in zwischenmenschliche Beziehungen und Institutionen."

Konkret kann das bedeuten, dass körperlich Kranke nicht zum Arzt gehen, Leute in Finanznot holen sich keine Unterstützung beim Sozialamt. Verhalten, mit dem Traumatisierte nicht nur sich selbst schaden, sondern auch ihren Angehörigen, ihren Kindern. Politisch Traumatisierte sind keine Inseln, die allein im Meer treiben, sondern sind eingebunden in familiäre Systeme. Ihre Kerben und Kanten prägen die Nachkommen.

Erwachsene sitzen an einem runden tisch.
Eine Therapiegruppe sitzt in der Beratungsstelle für politisch Traumatisierte der DDR Diktatur im Kreis. Die Beratungsstelle "Gegenwind" im Berliner Bezirk Mitte war 2009 die einzige Beratungsstelle bundesweit für politisch Traumatisierte aus der DDR. Bildrechte: IMAGO / epd

Emotional kalte, abweisende Eltern. Kinder, die denken, sie machen was falsch

Das sind keine DDR-spezifischen Langzeitfolgen. Frommer verweist auf Forschungen zu Holocaust-Überlebenden und den Auswirkungen ihrer Traumata auf die Generationen nach ihnen: "Wir wissen um die Langzeitfolgen auf die zweite Generation. Traumatisierte wirken beispielsweise auf Angehörige kalt, wie versteinert, emotional eingefroren. Wenn Kinder das erleben, beziehen sie das auf die eigene Person und denken, sie hätten was falsch gemacht. Das sind Kompensationsversuche. Da kann auch die zweite Generation Schaden nehmen." Deren Krankheitsbilder sind dann anders, depressive Syndrome zum Beispiel oder ein mangelndes Selbstwertgefühl.

Generation Kriegsenkel: Geprägt von der Wucht des Unausgesprochenen

Phänomene, die zum Beispiel auch die Kriegsenkel-Generation umtreiben. Kriegsenkel? Menschen, deren Eltern als Kinder im Krieg groß wurden, die nie über ihre Erlebnisse sprachen, jedenfalls nicht in Worten. Mit der Folge, dass deren Kinder, etwa die ab 1970 geborenen, in einem Nebel aus Schweigen und Verdrängen aufwachsen, ohne benennen zu können, woran die Familie, das Verhältnis zu den Eltern, den Geschwistern oder das eigene Selbstwertgefühl kranken. Und die sich seit einigen Jahren fragen, was ist los mit mir?

Kriegsenkel-Workshops, Online-Gruppen, Seminare

In der Wissenschaft finden sie noch kaum Antworten, aber zum Beispiel in Online-Foren, in denen sie sich mit anderen austauschen. Angesprochen auf diese Gruppe sagt Frommer: "Tatsächlich eines meiner Hauptmotive, als ich dieses Projekt angestoßen habe, waren die Fehler in der Aufarbeitung des 2. Weltkriegs. Da sind große Fehler passiert." Nichtaufarbeitung nach dem Motto, 'Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß', das hatte negative Folgen, sagt der Forscher. Ihm sei es wichtig, jetzt einen anderen Weg zu gehen, in Bezug auf die DDR festzustellen, dass es auch hier historische Ausblendungen gab und dass man da jetzt rangehe. Er räumt ein: "Das ist oft ein schmerzhafter Prozess, der Einblick in das Konflikthafte, alle verweisen ja gerne auf ihre heile Familie. Familiengeschichte aufzuarbeiten, heißt, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen."

Traumata: Müssen nicht weitergegeben werden

Denn die Transmission, wie es in der Fachsprache heißt, muss nicht sein, man muss nicht zwingend der nächsten Generation das unausgesprochene Erbe des eigenen Traumas mitgeben. Dazu muss aber der Aufarbeitungsbedarf erkannt werden. Aber es gibt doch seit 1990 eine Menge Anstrengung zur Wende-Verarbeitung in diese Richtung, Bundesbeauftragte und Landesbeauftragte? "Uns geht es darum, dieses Wissen zu bündeln, auf wissenschaftlich geprüfte Beine zu stellen, den Betroffenen zugängig zu machen," sagt Professor Frommer. In einer perfekten Welt, was stünde da am Ende der drei Forschungsjahre? "Ein dauerhaftes Kompetenzzentrum mit Ansprechpartnern, die Langzeitfolgen politischer Traumatisierung erkennen."

9 Kommentare

erzgebirger am 03.08.2021

Es kommt eben ganz darauf an, ob man die kommunistische Diktatur mit ihrer strukturellen Verletzungen der Menschenwürde gut fand bzw. findet oder ob man diesem System eine freiheitliche demokratische Gesellschaft vorzieht. Das heißt nicht, dass es in unserer sozialen Marktwirtschaft nichts zu verbessern gäbe.

erzgebirger am 02.08.2021

Für die Opfer des verbrecherischen DDR-Regimes ist ihre
Verharmlosung ein weiterer Schlag ins Gesicht. Sie sollten sich schämen, das Leid dieser Opfer dermaßen zu verharmlosen.
Außerdem scheint ihnen der Unterschied zwischen Gleichsetzung und Vergleich nicht ganz klar.
Am besten sie machen sich selbst ein Bild von den DDR-Verbrechen, die in Gefängnissen wie Bautzen oder Hoheneck begangen wurden. Dort gibt es Führungen, die von ehemaligen Häftlingen durchgeführt werden. Ich habe mich dies bisher noch nicht getraut, weil ich fürchte, es nervlich nicht auszuhalten bzw. zu verkraften...

Anneliese am 02.08.2021

Für mich ist das Traumatisierende an der ehem. DDR, mich immer wieder fragen zu müssen, ob/was denn heute eigentl. anders ist. Mit soz. Beruf erlebe ich von kirchl. Arbeitgebern aufgrund meiner Nichtzugehörigkeit zur christl. Kirche Diskriminierung. Hier in Sachsen hat die Diakonie eine Monopolstellg. (teilw. verdeckt) u. ich habe hier so gut wie keine Chance, das berufl. auszuüben, was ich kann. Kirche hat hier Macht u. kann Menschen regelrecht vom Arbeitsmarkt ausgrenzen, so weit, dass ich aktuell vor der Entscheidg. stehe, Sachsen zu verlassen. Und auch bei den wenigen nicht-kirchl. Arbeitgeb. in meinem Fachbereich erlebe ich, dass es „pro-Forma“-Bewerbungsverfahren gibt u. Stellen an Bekannte vergeben werden, dass Beziehungen heute wie damals eine Rolle spielen, dass Arbeitgeb. im Gesundheits- u. Sozialwesen lieber „billige“ Arbeitnehmer anstatt Fachkräfte einstellen. Das alles hinterlässt Hilflosigkeit u. Ohnmacht und ein Erleben von Ohnmacht ist kennzeichnend für Trauma.