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Über Ungleichheit in DeutschlandDie Wirtschaft wächst, die Armut auch

31. Juli 2019, 09:01 Uhr

Seit Jahren wächst die deutsche Wirtschaft, die Arbeitslosenzahlen sinken. Doch gleichzeitig nimmt die Zahl einkommensarmer Menschen zu. Woran liegt das?

Die deutsche Wirtschaft wächst. Von der Finanzkrise 2008/2009 hat sie sich schnell erholt und wächst seither mal um einen halben, mal um zwei, mal um vier Prozent. Angetrieben vom wirtschaftlichen Wachstum sinkt die Zahl der Arbeitslosen auf Rekordwerte. Doch gleichzeitig steigt ein Wert, der Wissenschaftlern zu denken gibt: Die Zahl der Armutsgefährdeten.

Die Grafik zeigt, ab welchem monatlichen Nettoeinkommen verschiedene Haushalte unter die Armutsgefährdungsschwelle fallen. Bildrechte: MDR

Das sind die Menschen, die monatlich weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens in einer Gesellschaft verdienen. Für eine Alleinstehende in Deutschland heißt das: sie verdient weniger als 999 Euro monatlich – und muss davon noch ihre Miete zahlen. In Deutschland gibt es laut dem letzten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 13,4 Millionen Menschen, die von Armut gefährdet sind. Bestimmte Gruppen seien besonders stark betroffen, erklärt Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, dessen Buch Armut zu einem der Standardwerke zum Thema zählt.

Am meisten betroffen sind die Arbeitslosen, mehr als die Hälfte lebt unter der Armutsgefährdungsschwelle. Bei den Alleinerziehenden, meist Frauen, sind es über 42 Prozent und guckt man sich zum Beispiel die älteren Menschen an: knapp 20 Prozent der Rentnerinnen und Rentner leben unter dieser Schwelle. Mit so wenig Geld kann man keine Sprünge machen.

Christoph Butterwegge – Armutsforscher und Autor

Mittleres EinkommenDas mittlere Einkommen oder Medianeinkommen teilt die Bevölkerung in zwei gleich große Hälften. Die eine Hälfte verdient mehr als das Medianeinkommen, die andere weniger.

Die Zahl der Armutsgefährdeten wächst seit mehr als zehn Jahren. Darunter sind bis zu drei Millionen Kinder unter 18 Jahren. Armut ist in Deutschland auch regional verschieden ausgeprägt : Aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass die Armutsgefährdungsquote in Bayern bei elf Prozent liegt, in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern dagegen bei mehr als 20 Prozent.

Gleichzeitig werden in Deutschland die Reichen immer reicher: Laut der Bundesregierung besitzen die obersten zehn Prozent mehr als die Hälfte des Vermögens, die untere Hälfte der Bevölkerung, also mehr als 40 Millionen Menschen, besitzen dagegen nur ein Prozent.

Über Armut und Reichtum spricht Christoph Butterwegge mit MDR-Reporterin Daniela Schmidt in der neuen Folge unseres Podcasts Meine Challenge: Leben ohne Cash.

Ungleichheit – oder der Gini aus der Flasche

Diese Ungleichheit zeigt auch der so genannte Gini-Koeffizient, der zwischen null und eins liegen kann. Beim Wert null haben alle Menschen einer Gesellschaft gleich viel Geld, beim Wert eins hat ein einzelner Mensch alles. In Deutschland ist der Gini-Wert für Vermögen in den letzten Jahren auf 0,8 gestiegen. Höher ist er unter anderem in Russland, China oder den USA, niedriger dagegen in Frankreich, Großbritannien oder Japan. Für Einkommen liegt der Gini-Wert in Deutschland deutlich niedriger, bei 0,26 – die Einkommen sind gleicher verteilt als die Vermögen. Christoph Butterwegge sieht mehrere strukturelle Ursachen für die Ungleichheit:

Armut wurzelt in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen. Der Einzelne ist gar nicht in der Lage zu entscheiden, ob z.B. Niedriglohnjobs geschaffen werden oder gut bezahlte Arbeitsstellen. Das entscheiden ganz andere – diejenigen die von diesem Armutsproblem überhaupt nicht betroffen sind. Niedrige Löhne sind gleichbedeutend mit hohen Gewinnen und deshalb hängen Armut und Reichtum miteinander zusammen.

Christoph Butterwegge

Im Herbst erscheint das neue Buch des Armutsforschers Christoph Butterwegge über die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit in Deutschland. Bildrechte: Wolfgang Schmidt

Außerdem sei die Steuerpolitik der vergangenen Jahre verantwortlich für die wachsende Ungleichheit: "Über viele Jahrzehnte wurden Kapital- und Gewinnsteuern abgeschafft, die Vermögenssteuer gar nicht erst erhoben oder der Spitzensteuersatz gesenkt. Gleichzeitig wurde die Mehrwertsteuer erhöht. Das ist die Steuer, die einkommensarme Menschen am meisten betrifft, weil sie ihr ganzes Geld in den Konsum stecken."

Politikwissenschaftler wie Butterwegge und Ökonomen wie der Franzose Thomas Piketty fordern deshalb, höhere Kapital- und Vermögenssteuern einzuführen und die Einnahmen stärker in Bildung zu investieren oder umzuverteilen: "Der übliche Begriff des Einkommens wird Personen mit sehr hohen Vermögen nicht gerecht und nur eine direkte Besteuerung des Kapitals trägt ihrer Beitragsfähigkeit angemessen Rechnung", heißt es etwa in Pikettys Analyse Das Kapital im 21. Jahrhundert. Paralel zu höherer Besteuerung sollte der Mindestlohn deutlich erhöht werden, fordert Christoph Butterwegge. Er orientiert sich bei seinen Überlegungen am Skandinavischen Modell: In Ländern wie Schweden gelten höhere Spitzensteuersätze und auch die Staatsausgaben etwa für Bildung und Infrastruktur liegen höher als hierzulande.

Armut. Macht. Politik

Die Folgen der Ungleichheit zwischen arm und reich sind auch ein Problem für die repräsentative Demokratie. Es gibt einen signifikanten Unterschied bei der Wahlbeteiligung zwischen arm und reich. Arme Bevölkerungsgruppen gehen weniger zur Wahl und werden auch weniger politisch repräsentiert. Studien zeigen sogar, dass in den letzten Jahren bestimmte politische Entscheidungen zuungunsten ärmerer Bevölkerungsgruppen getroffen wurden.

Was Bürger_innen mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollen, hatte in den Jahren von 1998 bis 2013 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden. In Deutschland beteiligen sich Bürger_innen mit unterschiedlichem Einkommen nicht nur in sehr unterschiedlichem Maß an der Politik, sondern es besteht auch eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen.

Forschungsprojekt: Systematisch verzerrte Entscheidungen?

Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums am Kieler Weltwirtschaftsinstitut, hält es aber für zu kurz gedacht, eine Umverteilung vorzunehmen: Die Vermögen reicher Personen seien häufig in Unternehmen gebunden und würden investiert, so der Ökonom:

Man kann sagen, dass die Vermögen auch von Unternehmerfamilien, solange sie immer wieder im Unternehmen investiert werden, eine sehr wichtige, auch sozial sehr nützliche Funktion wahrnehmen. Dadurch wird Kapital gebildet. Kapital macht Arbeitskräfte produktiver. Dann können und werden auch höhere Löhne bezahlt werden.

Stefan Kooths – Leiter des Prognoszentrums am Kieler Weltwirtschaftsinstitut

Er sieht vor allem die Stabilität der Währung als wichtiges Sozialinstrument: "Man sollte gerade mit der Stabilität der Währung niemals spielen, weil darunter immer die Schwächsten einer Gesellschaft am stärksten leiden. Alle diejenigen, die Sachwerte haben, sind typischerweise die Vermögenden. Die werden im Zweifel auch eine Hyperinflation überstehen. Diejenigen die in Sparbüchern gespart haben oder die Staatsanleihen halten oder auf andere Weise nur in begrenztem Maße Vermögen bilden können, die sind am stärksten darauf angewiesen, dieses stabile Tauschmittel zu haben." Die Bundesregierung arbeitet derzeit an einem neuen Armuts- und Reichtumsbericht, der aktuelle Zahlen liefern soll.

Im Podcast "Meine Challenge" spricht der Ökonom Stefan Kooths mit Reporterin Daniela Schmidt über den Fehlschluss, Geld für die Ungleichheit einer Gesellschaft verantwortlich zu machen.

Außerdem erklärt er hier im Interview, wie Geld entsteht und wann es wieder verschwindet.

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | 26. Juli 2019 | 08:00 Uhr