Menschen auf dem Alexanderplatz.
Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz: Oftmals wird die Größe von Minderheiten in Gesellschaften überschätzt (Archivbild) Bildrechte: imago images/Sabine Gudath

Statistik "Zu viele Ausländer": Warum die Größe einer Minderheit immer überschätzt wird

14. April 2025, 09:33 Uhr

Menschen überschätzen die Zahl der Einwanderer oder anderer Minderheiten. Warum? Weil die Mehrheit Angst vor der Minderheit hat, dachten Sozialwissenschaftler bisher. Eine neue Studie liefert eine bessere Erklärung.

Ist es die sprichwörtliche Angst vorm "schwarzen Mann", die ängstliche Menschen überall "dunkle Gestalten" erblicken lässt? Oder warum glauben Gesellschaften regelmäßig, dass der Anteil von Minderheiten wie Zuwanderern viel größer als deren tatsächliche Zahl ist? Und umgekehrt: Warum liegen diese Menschen genauso falsch, wenn es um die Größe der Mehrheit geht, die meist viel größer ist als von Befragten eingeschätzt? Eine neue Studie im renommierten Journal PNAS hat dafür jetzt eine überraschend einfache Erklärung gefunden.

Bisher gültige Theorie: Die Gefühle gegenüber Gruppen führen zur Überschätzung

Das Team um den Politikwissenschaftler Brian Guay von der Stony Brook University in den USA führte zunächst die Daten aus einer ganzen Reihe von Befragungen zusammen und fügte noch aktuelle Informationen hinzu. So entstand ein Pool aus Antworten von insgesamt 36.000 Befragten, also eine für sozialpsychologische Verhältnisse sehr große Datengrundlage. Und deren Auswertung stellt bisherige Annahmen in Frage.

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Laut Innenministerium kommen aktuell weniger Asylbewerber nach Sachsen-Anhalt als im vergangenen Jahr – etwa 60 pro Woche.

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Diese Theorien starten mit Beobachtungen wie der, dass US-Amerikaner die Größe verschiedener Minderheiten im eigenen Land regelmäßig dramatisch überschätzen. Das gilt sowohl für die afroamerikanische Gruppe als auch Latinos, Muslime, Asiaten, jüdische Amerikaner oder Angehörige von sexuellen Minderheiten, die sich unter dem Label LGBTQ zusammenfassen lassen. Sozialwissenschaftler vermuteten bisher, dass diese Fehleinschätzungen durch sogenannte "motivationale Ansätze" erklärt werden können. Dass also die Gefühle gegenüber bestimmten Gruppen bestimmen, wie sie eingeschätzt werden. Hans Alves, Sozialpsychologe der Ruhr-Universität Bochum, der nicht an der Studie beteiligt war, erklärt. "Weil sich Menschen von Einwanderern bedroht fühlen, überschätzen sie deren Anzahl."

Neue Studie: Menschen neigen immer zur falschen Größenschätzung

Doch die neue Auswertung deutet in eine andere Richtung. Und zwar scheinen sich Menschen grundsätzlich bei der Einschätzung von Mengen zu irren, wenn sie zu wenige Informationen haben. Das gilt also nicht nur für bekannte soziale Minderheiten, sondern kann beispielsweise auch angewendet werden auf den Anteil bestimmter Buchstaben an einem Text.

Um ihre These zu prüfen, verglichen Guay und Kollegen mit statistischen Methoden, welche der beiden Erklärungen die beobachtete Fehleinschätzung von Gruppengrößen besser erklären konnte: die Bedrohungsgefühle-These oder die allgemeine Tendenz zur falschen Größenschätzung. Dabei zeigte sich: Das allgemeine psychologische Muster konnte die Fehlschätzung deutlich besser voraussagen als die Bedrohungsthese.

"Vereinfacht kann man es sich in Bezug auf die Schätzung von Gruppengröße so vorstellen: Wenn ich nicht genau weiß, wie viele Menschen mit türkischem Migrationshintergrund es in Deutschland gibt, wird meine Schätzung auch einen Teil zufälligen Ratens beinhalten und zufälliges Raten zieht Häufigkeitsschätzung in Richtung 50 zu 50 Prozent", sagt Alves. Das bedeute: "Würden 100 Menschen Häufigkeiten komplett zufällig raten, wäre ihre mittlere Schätzung bei circa 50 Prozent, egal um welche Gruppe es geht. Das entspräche dann einer Überschätzung kleiner und Unterschätzung großer Gruppen."

Mehrere Migranten in einer Fußgängerzone beim Einkaufen, Spazieren. 3 min
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Statistikfehler: "Regression zur Mitte"

In der Statistik ist dieses Phänomen als "Regression zur Mitte" bekannt. Die Fehleinschätzung sagt nach Ansicht der Forscher also weniger über Vorurteile aus als mehr über die Art, wie Menschen grundsätzlich Mengen einschätzen. "Je höher die Unsicherheit, desto stärker die Verzerrung, und desto eher wird eine Minderheit in ihrer Größe überschätzt", sagt der Psychologe Sebastian Gluth von der Universität Hamburg. "Dem könnte man entgegenwirken, indem man das Wissen um Minderheiten sowie den Kontakt mit Minderheiten erhöht." Gluth vermutet, das würde die Unsicherheit abbauen, die in der Fehleinschätzung mündet. Denn dieser Fehler könnte tatsächlich umgekehrt einer der Gründe sein, warum Minderheiten wie Einwanderer als Bedrohung empfunden werden.

Links/Studien

Korrektur In einer früheren Version dieses Beitrags war die Rede davon, dass die US-Amerikaner die Größe verschiedener ethnischere Minderheiten überschätzen. Da in den Beispielen aber nicht nur ethnische Minderheiten aufgezählt werden, haben wir das Adjektiv entfernt.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 27. März 2025 | 19:30 Uhr

177 Kommentare

MDR-Team Gestern

Hallo @JeZi63,
dass Menschen Stadtviertel wechseln, hat viele Ursachen: soziale Durchmischung, Wohnungspreise, Bildungs- oder Infrastrukturangebote. Das allein an „Ausländeranteilen“ festzumachen, greift zu kurz und kann Vorurteile befördern. Auch das Stadt-Land-Wahlverhalten ist ein komplexes Zusammenspiel aus Alter, Bildung, Mediennutzung und sozialen Milieus – nicht nur „Lebensgefühl“. Pauschale Erklärungen verengen den Blick auf die Realität und helfen kaum weiter. Unser Artikel lädt ein, genau das zu reflektieren.
Herzliche Grüße

JeZi63 vor 2 Tagen

Die alteingesessenen Deutschen, aber auch die gut integrierten Ausländer (z.B. etliche Türken der ersten Gastarbeitergeneration) ziehen weg von den Stadtvierteln, in denen mittlerweile fast nur noch Ausländer wohnen, und hin in die besser situierten Gegenden mit geringem Ausländeranteil. Oder gleich ins Umland. Ist z.B. in Berlin sehr gut zu beobachten. - Dass in den Städten eher links und auf dem Lande konservativ gewählt wird, war schon in den 1950ern so, als es nirgendwo in D in nennenswerter Zahl Ausländer gab. Hat wohl eher etwas damit zu tun, dass Linke sich eher im Großstadtleben wohl fühlen und "Rechte" das Familiäre und die Sicherheit auf dem Lande bevorzugen.

klaus.kleiner77 vor 2 Tagen

Warum wundert es mich nicht das selbst von MDR Wissen online Diskussionsbeiträge von Nutzern zugelassen, veröffentlicht und weiter verbreitet werden, die Hass und Hetze enthalten?

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