WahrnehmungspsychologieAuch bei Zuwanderung: "Jeder Vierzigste" klingt nach mehr als "2,5 Prozent"
Eine aus der Psychologie bekannte Wahrnehmungsverzerrung kommt auch bei Migrationszahlen zum Tragen, zeigt eine Studie aus Italien. Ein und derselbe Wert kann je nach Formulierung als höher oder niedriger wahrgenommen werden.
Sie können ja an sich selbst mal den Test machen. Dazu folgende fiktive Nachricht: "In Land A war vor zehn Jahren einer von 40 Menschen ein Zuwanderer, heute ist es einer von 15. Auch in Land B hat sich der Zuwandereranteil im selben Zeitraum erhöht – von 2,5 Prozent auf rund 6,7 Prozent."
In welchem der beiden Länder ist der Anteil stärker gestiegen? Wo ist er heute höher?
Menschen, die nachrechnen, kommen mehr oder weniger schnell darauf, dass beide Länder die exakt selben Zahlen vorweisen. Aber es gibt eben auch viele, die sich bei solchen Zahlen eher von einem Gefühl leiten lassen als von einer Umrechnung. Und von denen würden wohl viele dem fiktiven Land A eine höhere Zuwanderung attestieren. Das ist zumindest das (leicht abgewandelte) Ergebnis einer neuen Studie.
1-von-x-Verzerrung
Eine italienische Forschungsgruppe hat dabei untersucht, ob eine in der Psychologie bereits bekannte, aber unterschiedlich stark nachgewiesene Wahrnehmungsverzerrung auch bei Migrationszahlen zur Geltung kommt. Es ist die sogenannte 1-von-x-Verzerrung. Danach tendieren Menschen dazu, einen Wert höher einzuschätzen, wenn er in der Formulierung "1 von x" dargestellt wird als bei einer Darstellung als Prozentsatz. Sprich: "1 von 40" klingt für viele nach mehr als "2,5 Prozent", obwohl beide Werte identisch sind. (Interessanterweise wird übrigens "1 von 40" auch tendenziell höher empfunden als "5 von 200".)
Das vierköpfige Forscherteam um Maria Michela Dickson wertete aus einer repräsentativen Stichprobe Fragebögen aus, die 551 Menschen aus der norditalienischen Stadt Trient ausgefüllt hatten. Darin waren auch Fragen enthalten, aus denen man die mathematischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fähigkeiten sowie die kulturelle Weltsicht der Probanden ableiten konnte.
Für die in dieser Studie entscheidenden Formulierungen wurden die Probanden in zwei nahezu gleich große Gruppen unterteilt. Gruppe A bekam folgende Formulierung zu lesen:
"Betrachten Sie die folgenden Daten: Im Jahr 2001 betrug der Anteil der ausländischen Einwanderer an der Wohnbevölkerung 1 von 40 Einwohnern; 2011 stieg dieser Anteil auf 1 von 15 Einwohner."
Und für Gruppe B wurden die Anteile als Prozentsätze formuliert, also:
"Betrachten Sie die folgenden Daten: Im Jahr 2001 betrug der Anteil der ausländischen Einwanderer an der Wohnbevölkerung 2,5 %; 2011 stieg dieser Anteil auf 6,7 %."
Anschließend sollten die Probanden folgenden Satz vervollständigen: "Meiner Meinung nach ist dieser Anstieg ...". Dabei konnten sie aus fünf Möglichkeiten wählen: sehr niedrig, niedrig, weder niedrig noch hoch, hoch, sehr hoch. Und die Diskrepanz zwischen beiden Gruppen, wie oft der Zuwanderungsanstieg als hoch oder sehr hoch empfunden wurde, war recht gewaltig. Bei der Gruppe A ("1 von x") waren es 76,5 Prozent. Bei Gruppe B (Prozentsätze) dagegen nur 54,1 Prozent.
Persönliche Faktoren spielten kaum eine Rolle
Mit anerkannten wissenschaftlichen Methoden untersuchte das italienische Team auch, ob die aus den Fragebögen gewonnenen Erkenntnisse über mathematische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Fähigkeiten der Probanden für das Ergebnis mitentscheidend war. Aber das war nicht der Fall. Einziger Faktor, der das Ergebnis deutlich beeinflusste, war die persönliche Einstellung der Probanden zum Thema Zuwanderung. Leute mit wenig Toleranz bei diesem Thema neigten viel stärker dazu, den Anstieg als hoch oder sehr hoch zu empfinden.
Die Forschungsgruppe entwickelte dann aus den gesammelten Daten eine Schätzung, wie wahrscheinlich es ist, dass jemand in Abhängigkeit von seiner eigenen persönlichen Einstellung den vorgegebenen Zuwanderungsanstieg als hoch oder sehr hoch empfindet. Heraus kamen zwei Linien, eine rote für Gruppe A mit den Werten im Format "1 von x" und eine schwarze für Gruppe B mit den Werten im Prozentsatzformat. Nur bei geringer eigener Toleranz gegenüber Zuwanderung liegen diese Linien recht nah beieinander, ansonsten ist der Unterschied, den die Schreibweise macht, doch beträchtlich.
Zähler und Nenner sind wahrscheinlich entscheidend
Die wahrscheinlichste Erklärung, warum wir dazu neigen, Veränderungen im Format "1 von x" oder "jeder x-te" als höher zu empfinden als Prozentsätze, hängt mit der guten alten Bruchrechnung, also mit Zähler und Nenner zusammen. Anteile wie bei der Zuwanderung lassen sich eben einerseits mit gleichbleibendem Zähler (möglichst 1) und unterschiedlichen Nennern darstellen, beispielweise wie oben "1 von 40" und "1 von 15". Bei Prozentsätzen bleibt aber der Nenner gleich (100), und der Zähler ändert sich, im obigen Beispiel "2,5 von 100" und "6,7 von 100". Die Änderung des Nenners im ersten Beispiel ist in absoluten Zahlen aber deutlich größer (25) als die Änderung des Zählers im zweiten (4,2), wodurch wir im ersten Beispiel gefühlsmäßig wohl einen größeren Anstieg empfinden.
Ein zweiter Erklärungsansatz – auch ganz ohne Wertsteigerung – ist, dass das Format "1 von x" mehr Emotionen hervorruft als ein Prozentsatz. Menschen können sich mit dem einen individuellen Fall (von x) wahrscheinlich besser identifizieren als mit einem Zahlenwert in Relation zu 100 Fällen, der dann nicht für ein einzelnes Individuum, sondern für eine unpersönlichere Gruppe steht.
Hohe Verantwortung für Medien & Co.
Die italienische Forschungsgruppe leitet daraus eine hohe Verantwortung für Kommunikatoren wie zum Beispiel die Medien ab. Denn eine Statistik besteht, wenn sie erscheint, einfach aus Zahlen. Wie diese Zahlen umschrieben werden, liegt aber in der Hand der Kommunikatoren und kann die öffentliche Wahrnehmung durchaus stark beeinflussen. Den Autoren zufolge kann das emotionalere 1-von-x-Format für böswillige Übertreibungen genauso wie für mutmaßlich gutwillige Anliegen benutzt werden, beispielsweise bei Gesundheitsfragen, deren Ausmaß die Öffentlichkeit noch nicht verstanden hat. Dann klänge "jeder vierzigste Mensch ist gefährdet" vermutlich eindringlicher als "2,5 Prozent sind gefährdet".
Die Ergebnisse der Studie unterstreichen laut den Forschern jedenfalls "die Notwendigkeit, die Form der Informationspräsentation und die Rolle der kognitiven Verzerrungen bei der Gestaltung der öffentlichen Wahrnehmung und Entscheidungsfindung sorgfältig zu berücksichtigen."
Links / Studien
Die Studie "Numerical format and public perception of foreign immigration growth rates" ist im Journal "PLOS ONE" erschienen.
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 02. Oktober 2024 | 19:36 Uhr
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