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Der Mensch ist ein soziales Wesen, heißt es. Aber wieviel "Wir" steckt tatsächlich im Menschen? Bildrechte: Colourbox.de

Der Redakteur | 07.11.2022Wieviel "Wir" steckt im Menschen?

07. November 2022, 17:53 Uhr

Anlässlich der ARD-Themenwoche geht Redakteur Thomas Becker der Frage nach: Wieviel "Wir" steckt in der Menschheit? Eine soziologische Spurensuche mit Prof. Matthias Grundmann von der Uni Münster.

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Alleine kann er nicht funktionieren. Das war schon immer so. Als wir noch in der Höhle lebten, waren Menschen, die sich von der Gruppe abgesondert haben, dem Tode geweiht, sagt. Prof. Matthias Grundmann, Soziologe an der Uni Münster. Das ist heute nicht mehr ganz so extrem, aber alleine schon die Spezialisierungen führen dazu, dass wir immer abhängig sind von anderen. Wer baut sich heute schon das Werkzeug selbst, mit dem er sein Essen "jagt" um es dann auch noch selbst zuzubereiten.

Die Arbeitsteilung ist aber nur der eine Aspekt. Wir müssen aufpassen, dass wir das soziale Miteinander nicht zu sehr verstaatlichen, weil der Staat viele Aufgaben übernimmt – Stichwort Sozialleistungen. Motto: Das Amt richtet es schon oder der Pflegedienst oder Essen auf Rädern, wo früher jemand aus der Nachbarschaft oder der Familie vorbeigekommen ist oder auf dem Hof gewohnt hat. Aber auch das ist keine Einbahnstraße.

Das ist in den letzten Generationen stark delegiert worden. Da gibt es staatliche Einrichtungen, die können mir dann helfen. Da habe ich nicht die Notwendigkeit zu gucken, wer ist da noch in meinem Umfeld.

Prof. Matthias Grundmann, Professor für Sozialisation am Institut für Soziologie Uni Münster

War früher alles besser?

Dass es zu DDR-Zeiten mehr Zusammenhalt gegeben hat bei der gegenseitigen Mangelbewältigung, das ist nicht nur ein Gefühl. Allerdings ist vieles heute auch gar nicht mehr nötig, weil jeder eine Bohrmaschine besitzt. Trotzdem ist das soziale Miteinander heute besser als sein Ruf, so Prof. Grundmann und wird auch gerade wieder hochgefahren in diesen schwierigen Zeiten.

Es wird in Zeiten, in denen es knapp wird, stark aktiviert. Wenn man genau hinguckt, gibt’s das tatsächlich nach wie vor.

Prof. Matthias Grundmann, Professor für Sozialisation am Institut für Soziologie Uni Münster

Prof. Grundmann forscht auch zu Vergemeinschaftungsprozessen und trifft dort überall auf Nachbarschaftsinitiativen, wo sich Menschen zusammenfinden, etwas zusammen in die Hand nehmen, auch wenn das nicht immer so viel thematisiert wird. Auch unter Familienmitgliedern ist der Zusammenhalt stärker ausgeprägt, als es in den Medien und in der politischen Debatte manchmal diskutiert wird, sagt Grundmann. Ein gewisser Eigennutz sei zwar gegeben, aber unter der Hand wird doch viel unterstützt und das nicht immer nur monetär.

Die ganze Pflege funktioniert eigentlich auch nur durch familiäre Solidarleistung, so Prof. Grundmann. Das sei ein "Familien-Wir" mit klaren Bezugsgruppen. Wie sozial wir eingestellt sind, zeigt sich auch regelmäßig an der Spendenbereitschaft, im regionalen Rahmen nach Familientragödien wie Bränden genauso, wie bei größeren Naturkatastrophen. Was uns manchmal fehlt ist die Fähigkeit, Signale zu senden, wenn man Hilfe anbieten kann und besonders auch, wenn man Hilfe braucht. Beides will gelernt sein.

Wie steht es um die Einsamkeit im Alter?

Es lässt sich nicht wegdiskutieren, dass es viele Menschen gibt, die vereinsamen, wenn die Kinder aus dem Haus sind oder die Arbeitsstelle wegbricht oder das Rentnerdasein beginnt. Die sozialen Kontakte für diese Zeiträume müssen aber schon früher geknüpft und gepflegt werden und das muss nicht immer physisch sein. Natürlich leben die Familien oder Freunde oft weiter voneinander entfernt als zu DDR-Zeiten, aber damals hat ein Brief Tage gebraucht und Telefonanschlüsse gab es nur vereinzelt. Zwar sind aus den 300 Kilometern von damals zwar mitunter 600 oder 6000 geworden, aber diese Entfernungen sind heute viel leichter in Echtzeit zu überbrücken, sagt Prof. Grundmann. Und die Reisezeiten haben sich auch verkürzt.

Die Pflege der Kontakte passiert aber trotzdem nicht automatisch. Wer hier etwas tun will, kann sich zum Beispiel auf die Suche nach Menschen begeben, die die gleichen Interessen haben. Das "Wir"-Gefühl in einer Fußballmannschaft entsteht ja aus der gleichen Leidenschaft für den Fußball und strahlt dann auch oft darüber hinaus. Und das klappt auch beim Briefmarkensammeln, Kegeln oder im Lesekreis. Solche Gleichgesinnten trifft man auch bei Volkshochschulkursen, da gibt es die verrücktesten Sachen, die auch immer wieder zu Kontakten führen und zu einem neuen Wir. Trotzdem muss dafür "das Ich" den Hintern hochkriegen und zwar nicht erst, wenn die Einsamkeit spürbar wird. "Wenn man Eigenbrötler ist und es auch nicht gelernt hat, andere anzusprechen oder irgendwo hinzugehen, dann wird man das auch im Alter nicht können", so Prof. Grundmann. Das sei eine Frage von Sozialkompetenz, die wir lernen müssen und auch unser ganzes Leben brauchen. 

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MDR (ask)

Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Ramm am Nachmittag | 07. November 2022 | 16:40 Uhr