Lebensmittel auf einer Deponie
Manche Lebensmittel landen nie im Geschäft, sondern direkt auf der Deponie. Bildrechte: imago images/Ukrinform

Expertengespräch Problem Lebensmittelverschwendung: Gründe und Einschätzungen

01. September 2021, 11:06 Uhr

Laut dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft werden in Deutschland jedes Jahr etwa zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel entlang der Versorgungskette, also von der Landwirtschaft bis zu den Verbraucher:innen, entsorgt. Die beiden Expert:innen Karolin Schmidt und Stefan Kreutzberger beschäftigen sich auf verschiedene Weisen mit dem Thema Lebensmittelverschwendung und erklären, warum in Deutschland so viel weggeworfen wird und was dagegen getan werden kann.

Warum ist Lebensmittelverschwendung in Deutschland ein Problem?

Lebensmittelverschwendung ist in Deutschland ein Problem – da sind sich Forscherin Karolin Schmidt und Journalist Stefan Kreutzberger einig. Das Wegwerfen findet in der gesamten Lieferkette statt, angefangen bei den Lebensmittelproduzierenden über den Handel bis in den privaten Bereich. Schmidt geht davon aus, dass Haushalte etwa 60 Prozent der Verschwendung ausmachen, Kreutzberger sieht den privaten Bereich bei rund 40 Prozent.

Die verschiedenen Zahlen sind laut ihm ein Problem: "Die Zahlen gehen immer noch durcheinander. Die Bundesregierung und das zuständige Ministerium arbeiten mit Zahlen, die veraltet sind und die spiegeln gar nicht die Realität wieder." Dennoch ist es Fakt, dass Privatpersonen einen großen Anteil an dem Problem Lebensmittelverschwendung beisteuern.

Karolin Schmidt
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Karolin Schmidt arbeitet seit Oktober 2015 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Umweltpsychologie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Sie promovierte zum Thema Lebensmittelüberkonsum und Lebensmittelverschwendung in Privathaushalten.

Lebensmittelproduktion: Was läuft falsch? 

"Es wird natürlich unterschieden, dass Lebensmittel auch direkt bei den Produzierenden schon weggeworfen werden oder in der Verarbeitung, bevor sie überhaupt in den Handel kommen", so Schmidt. Auch bei Supermärkten lande viel im Müll. Gründe dafür sieht Kreutzberger im allgemeinen Ernährungs- und Wirtschaftssystem: "Das ist ein kaputtes System, das permanent Überschüsse produziert, die irgendwie weg müssen. Deswegen werden Lebensmittel, die das Mindesthaltbarkeitsdatum vielleicht in zwei bis drei Tagen erreichen, radikal aussortiert und weggeworfen".

Ein großer Bereich, der für die Überproduktion entscheidend sei, ist die landwirtschaftliche Produktion verbunden mit der Definition von Lebensmitteln, denn "darunter wird nur das gefasst, was tatsächlich geerntet wird", sagt Kreutzberger, "und dadurch ist die Definition von Lebensmittelmüll auch nur das, was geerntet und dann vernichtet wurde". Was das genau bedeutet erklärt Kreutzberger anhand eines Beispiels von seiner Recherche für das Buch "Die Essensvernichter" im Videointerview:

Abfallhaufen mit Tomaten 1 min
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1 min

Fr 29.01.2021 16:51Uhr 00:41 min

https://www.mdr.de/wissen/resteretter/video-487122.html

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Video

Da dieser Abfall nicht als Verschwendung zählt, wird er auch in keine Statistik mit aufgenommen und das verstelle den Blick auf die Mengen und Ressourcen, die tatsächlich verschwendet würden, so der Journalist.

Die Hauptursachen: Wie kommt es, dass so viele Lebensmittel im Müll landen?

Laut Karolin Schmidt wird "Lebensmittelverschwendung häufig durch Verhaltensentscheidungen bedingt, die meistens weit vor dem eigentlichen Wegwerfen liegen". Gerade, wenn man viele Lagermöglichkeiten wie Speisekammer und große Schränke hat, verliere man schnell den Überblick. Man neige dazu, beim Einkaufen leichter auf Angebote wie Großpackungen oder "kauf vier, zahl drei" anzuspringen. "Es sind die kleinen Dinge, bei denen man jedoch schnell zu viel kauft, und dann drei Wochen später dann den vierten Joghurt wegwirft", sagt Schmidt. Im Moment der Kaufentscheidung denke man allerdings nicht an diese Konsequenz.

Kreutzberger blickt auch hier nicht nur auf die Endverbraucher, sondern auf die gesamte Nahrungskette: "Es werden so viele Lebensmittel weggeworfen aus Haftungs- oder kommerziellen Gründen", sagt er. Als Beispiel nennt er Nutellagläser, die passend zur Fußball-EM bedruckt wurden, und "dann ist die EM zu Ende, man hat viel überproduziert und schmeißt das einfach weg", erklärt Kreutzberger.

Lebensmittel als kostbare Ressource: Warum haben wir die Wertschätzung verlernt?

Wie viele Ressourcen braucht es, um ein Lebensmittel zu produzieren? Stefan Kreutzberger gibt zu bedenken, um Fleisch zu produzieren, sei viel mehr Energie und Wasser notwendig als beispielsweise für Gemüse, und das sei vielen Menschen nicht bewusst. Das kommt laut Kreutzberger durch die über Jahrzehnte verloren gegangene Wertschätzung von Lebensmitteln: "Wertschätzung von dem ganzen Aufwand, der nötig war, um das Ganze herzustellen, die gibt es einfach nicht, wenn die Preise so dumpingmäßig gehandelt werden, wie es hier in Deutschland ist". Auch Karolin Schmidt sieht in der mangelnden Wertschätzung ein wesentliches Problem: "Die meisten Menschen haben keine Lebensmittelknappheit miterlebt", sagt sie.  Die Nachkriegsgeneration habe auch heute noch eine höhere Wertschätzung der Nahrungsmittel und betrachte sie eher als eine wichtige Ressource, als es die jüngeren Generationen tun:

Karolin Schmidt 1 min
Bildrechte: Sophia Voß
1 min

Fr 29.01.2021 16:51Uhr 00:35 min

https://www.mdr.de/wissen/resteretter/video-487120.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Video

Lebensmittelkonsum: Was muss sich ändern?

Karolin Schmidt und Stefan Kreutzberger sind sich einig: Die Politik muss handeln. Das auf Verpackungen angegebene Mindesthaltbarkeitsdatum sei im Laufe der Zeit immer kürzer geworden, obwohl die Produkte nicht schneller schlecht würden, kritisiert Schmidt. Hier findet sie, sollten wieder längere Zeiträume angegeben werden. Außerdem hält sie es für sinnvoll, das sogenannte "Containern" zu erlauben (Anm. der Red.: Containern bezeichnet das Suchen nach Lebensmitteln in Mülltonnen von Supermärkten). Schmidt spricht sich außerdem für einen "gesamtgesellschaftlich bewussteren Konsum" aus, also dass die Menschen beispielsweise beim Einkauf auch an ihre Gesundheit denken und Lebensmittel nicht mehr nur noch als Wegwerf-/ und Alltagsprodukte sehen.

Stefan Kreutzberger bemängelt, dass sich "in Deutschland von Seiten der Regierung seit zehn Jahren nichts bewegt hat". Es werde angestrebt, die Lebensmittelverschwendung bis 2030 um die Hälfte zu reduzieren, doch werde dies gleichzeitig "den Selbstheilungskräften der Industrie und des Handels überlassen", es gebe "keine gesetzlichen Regelungen, keine Obergrenzen". Kreutzberger fügt hinzu, wenn die Politik zehn Jahre lang nichts unternehme, müsse sie sich nicht wundern, dass sie die großen Ziele, die sie sich gesteckt hat, nicht erreichen könne.

Allerdings sieht er gleichzeitig einen erfreulichen Trend im kleinen Bereich, zum Beispiel bei vielen Menschen, die sagen, sie "machen den Skandal der Lebensmittelverschwendung nicht mit und sind aktiv dagegen, indem sie sich die Brötchen, die beim Bäcker weggeworfen werden, nach Ladenschluss abholen."

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