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Eskalation im Nato-Russland-Ukraine-KonfliktWas bedeutet die Russland-Ukraine-Krise für Energieversorgung und Energiewende?

24. Februar 2022, 14:42 Uhr

Mit der Russland-Ukraine-Krise herrscht wieder Krieg auf dem europäischen Festland. Die geopolitischen Folgen dieser Auseinandersetzung sind weitreichend. Bereits vor Kriegsbeginn wurde die Gaspipeline Nord Stream 2 auf Eis gelegt. Das sei erstmal nicht so schlimm, meinen Expertinnen und Experten. Wenn Deutschland aus Fehlern der Vergangenheit lernt, kann die Energiewende aber gelingen und sogar einen Schub bekommen.

Angesichts des durch einen Krieg verursachten menschlichen Leids, scheint der Blick auf die Energiewende ein Luxusproblem zu sein. Aber eine geopolitische Krise löst die Klimakrise nicht ab, sondern verschärft sie unfreiwillig. Denn Russland liefert mit Erdgas einen wichtigen Brennstoff – zwar fossiler Natur, aber bisher als Brückentechnologie ein prominentes Mittel zum Zweck in Richtung Null-Emissionen. Wir beantworten die wichtigsten Fragen.

Wie abhängig ist Deutschland von Erdgas und Russland?

Erdgas ist in Deutschland nach wie vor der zweitwichtigste Brennstoff, nach Mineralöl und vor Erneuerbaren Energie und Kohle. Während der Anteil von Öl und Kohle stark zurückgehen wird, könnte sich bis 2040 der Erdgasverbrauch sogar leicht erhöhen. Das sagt zumindest eine Prognose des amerikanischen Mineralölkonzerns Exxon Mobil aus dem Jahr 2018.

Mit Stand jetzt ist Erdgas also durchaus wichtig. Wenn es um Erdgasimporte geht, gibt es für Deutschland drei Hauptquellen: die Niederlande, Norwegen und – mit über fünfzig Prozent dominierend – Russland.

Und wenn Russland den Hahn zudreht? Schlecht für die Wirtschaft: "Mit einem Stopp der Gaslieferungen aus Russland würden auch ganze Industriezweige wie die Chemie ihre Produktion stoppen", erklärt Michael Sterner, Energieforscher von der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg. "Diese massive Abhängigkeit können und sollten wir über die Energiewende beenden."

Was bedeutet der Stopp der Nord-Stream-2-Zertifizierung?

Die Tatsache, dass die neue Gaspipeline zwischen Mecklenburg-Vorpommern und der russischen Ostseeküste von vornherein umstritten war, zeigt, dass sie nicht alternativlos ist. Das bekräftigt auch Claudia Kemfert, Abteilungsleiterin für Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (und MDR-Podcasthörenden wohlbekannt). Die Klimaökonomin sagte dem Science Media Center, die Pipeline werde zur Sicherung der Energieversorgung nicht gebraucht. Für Gas stünden ausreichend andere Quellen zur Verfügung. "Sie würde die Abhängigkeit von Russland noch weiter ansteigen lassen, auf deutlich über 60 Prozent", so Kemfert.

Wir brauchen eine strategische Gasreserve, die uns wie beim Öl für neunzig Tage im Ernstfall mit Gas versorgt.

Prof. Dr. Claudia Kemfert | Klimaökonomin

Was bedeutet die geopolitische Krise für die Energiepreise?

Die schwierige Lage am Energiemarkt ist unlängst bei Verbraucherinnen und Verbrauchern angekommen. Die Krise kann weitere Gaspreissteigerungen mit sich bringen, vermutet Claudia Kemfert – allerdings nicht, weil Nord Stream 2 gestoppt wurde.

Könnte das Gas knapp werden – und was ist dann?

Das ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer vorherzusagen. Weniger Gaslieferungen könnte Deutschland ausgleichen. "Sollten die gesamten fossilen Energie-Bezüge gestoppt werden, wird es erheblicher Anstrengungen bedürfen, diese entsprechend auszugleichen", so Claudia Kemfert.

Aber: Die aktuelle Wetterlage und das Ende des Winters bedeuten, dass Gas als Wärmelieferant in den kommenden Monaten erstmal nicht überstrapaziert wird. Im schlimmsten Fall müsste die Industrie ihren Verbrauch drosseln. Im Bereich Stromversorgung könnte kurzfristig auf Kohlekraftwerke ausgewichen werden. "Zumindest dort, wo Erdgaskraftwerke nicht zur Versorgung von Fernwärmesystemen notwendig sind", erklärt der Klima-, Umwelt- und Energieforscher Manfred Fischedick. Aber: "Verbunden mit dem Nachteil deutlich höherer CO2-Emissionen."

Erdgastanks: Der Brennstoff ist der zweitwichtigste in Deutschland. Bildrechte: IMAGO / Panthermedia

Kann sich Deutschland unabhängig machen?

Eine Möglichkeit besteht darin, nicht alles auf eine Karte zu setzen, sondern die Gasbezüge aufzuteilen. Außerdem könnte Deutschland auf Flüssiggas ausweichen. Claudia Kemfert: "Es gibt ausreichende Flüssiggas-Terminals in Europa, auf die auch Deutschland zugreifen kann. Die Frage ist eher, ob es zu einem generellen Lieferstopp von Gas aus Russland kommt. Auch dies könnten wir überbrücken, zumindest für einen gewissen Zeitraum." Die Klimaökonomin sieht Deutschland alles in allem aber schlecht vorbereitet: "Wir brauchen eine strategische Gasreserve, die uns wie beim Öl für neunzig Tage im Ernstfall mit Gas versorgt. Und wir sollten die Gasspeicher von Russland zurückkaufen und in Staatsbetrieb verwalten, damit wir uns ausreichend versorgen können."

Statt auf Gas auf Kohle- und Atomenergie zu setzen, sei keine gute Idee, erklärt Claudia Kemfert. Energieforscher Michael Stenner pflichtet ihr bei. "Wind- und Solarstrom kosten mit vier bis sechs Cent pro Kilowattstunde nur ein Drittel von fossilem Strom aus neuer Atom-, Kohle- oder Gaskraft. Zudem haben wir das Entsorgungsproblem von Atom- und CO2-Müll nicht gelöst, was Kohle, Erdgas und Atom zu den teuersten Energieformen macht, die wir je genutzt haben."

Neue Kernkraftwerke seien abgesehen von den Fragen zu Reaktorsicherheit und Endlagerung auch mit Blick auf den Zeithorizont keine gute Idee, erklärt Manfred Fischedick. Grund seien lange Planungs- und Genehmigungsverfahren. Projekte in Frankreich, Finnland und Großbritannien würden zudem zeigen, dass die hohen Kosten energiewirtschaftlich nicht sinnvoll wären.

Welche Alternative sind erneuerbare Energien?

Neben den bekannten klimapositiven Effekten, haben erneuerbare Energien einen weiteren klaren Vorteil: Wind- und Solarkraft können wir vor der eigenen Haustür nutzen, Deutschland wäre von Energielieferungen unabhängiger. Michael Sterner betont, dass diese Quellen die mit den geringsten Kosten und dem geringsten Flächenverbrauch seien. Für viele sei der Vorteil schon jetzt ersichtlich: "Alle, die in den letzten Jahren konsequent auf Wind und Solar gesetzt haben, berührt der Anstieg der Energiepreise wenig: Hauseigentümer, Gewerbetreibende und Industrieunternehmen", so Sterner. "Erdgas ist zu schade, um es in den Häusern zur Wärmeerzeugung zu verbrennen." Seine Worte folgen auf einen Trend: Der Anteil an Gasheizungen bei den Häuslebauenden nahm zuletzt deutlich ab.

Das Plädoyer für heimische erneuerbare Energien ist auch ein Plädoyer für Freiheit und Wohlstand.

Prof. Dr. Michael Sterner | Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg

Mit der vermehrten Nutzung erneuerbarer Energien müssen Speicherlösungen einhergehen. "Deutschland hat vor 15 Jahren den Fehler gemacht, eine direkte Pipeline nach Russland zu bauen anstelle eines Flüssiggas-Terminals. Heute benötigen wir stattdessen den Bau eines Wasserstoff-Terminals", so Claudia Kemfert. Das wäre keine Schattenseite, sondern zeigt die Vorteile der Erneuerbaren. Michael Sterner: "Wir können sie in Wasserstoff oder synthetische Gase und Kraftstoffe wandeln, in Gasspeichern und Batterien speichern, über Strom- und Gasnetze verteilen und in Gebäuden, Mobilität und Industrien nutzen." Darauf setzt auch Manfred Fischedick vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie: "Längerfristig kann grüner Wasserstoff Erdgas als zentrale Säule der Energieversorgung ablösen. Beim Aufbau der Wasserstoffstrukturen ist dabei – den aktuellen Lehren folgend – noch stärker als bisher auf ein hohes Maß an Diversifizierung der Wasserstoffimportquellen und Flexibilität zu achten."

Welche Lehren und Chancen stecken in der geopolitischen Krise?

Den Konflikt zwischen Russland, Ukraine und Nato etwas Gutes abgewinnen zu wollen, wirkt freilich absurd. Zumindest im Energiebereich kann er aber als Chance begriffen werden: Die Lehre, Energieimportquellen besser zu verteilen, sieht Energieforscher Michael Sterner mit den Erneuerbaren als beantwortet und verweist auf "die geopolitische Verteilung dieser Energiequellen über die ganze Welt und nicht auf wenige Länder, die oft nicht unsere Werte teilen und von denen wir unsere Wirtschaftskraft und unser Leben abhängig gemacht haben". Ein Plädoyer für heimische erneuerbare Energien sei seiner Meinung nach ein Plädoyer für Freiheit und Wohlstand.

Zugleich wäre auch ein energiepolitischer Neustart in Deutschland denkbar. Derzeit ist zumindest Wind in den Segeln: Die neue Bundesregierung hat für Ostern ein Gesetzespaket angekündigt, das die Energiewende nach zehn Jahren wieder vorantreiben möchte.

Dabei muss auch die Reklame stimmen, findet Michael Sterner: "Wir brauchen eine positive politische Kommunikation für unsere heimischen erneuerbaren Energieträger: 'Wir sind Windland, wir können uns zu einem Großteil selbst versorgen, Erneuerbare sind für den Erhalt unseres Wohlstandes und unserer Versorgungssicherheit notwendig.'"

"Die beste Antwort auf fossile Energiekriege ist die Energiewende mit dem raschen Ausbau der erneuerbaren Energien und dem Energiesparen", appelliert Claudia Kemfert. Die Regierung müsse alles dafür tun, damit Investitionen im Energiesparen vorankämen. "Sie muss der Industrie helfen auf dem Dekarbonisierungspfad und die erneuerbaren Energien rasch ausbauen. Erneuerbare Energien und Energiesparen senken die Energiekosten."

flo

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