Themenfoto Schluckimpfung
Die Schluckimpfung gegen die Kinderlähmung könnte auch vor dem Coronavirus schützen, vermuten Forscher. Bildrechte: imago/epd

Aktivierung des Immunsystems Mit der Polio-Schluckimpfung gegen Corona

13. Juni 2020, 05:00 Uhr

Die Polio-Schluckimpfung hilft gegen auch gegen zahlreiche andere Erkrankungen, besonders wenn sie regelmäßig aufgefrischt wird. Forscher glauben daher, dass sie auch die Covid-19 stoppen könnte.

Die Schluckimpfung gegen das Poliovirus wird weltweit seit vielen Jahrzehnten an Kinder ausgegeben. Besonders an ihr ist, dass sie eine sogenannte Lebendimpfung ist. Das heißt, es werden abgeschwächte aber aktive Erreger in sehr niedriger Dosis verabreicht. Zu einer Infektion kommt es dabei in der Regel nicht. Studien zeigt stattdessen, dass dabei nicht nur ein Schutz gegen die Kinderlähmung aufgebaut, sondern das Immunsystems gegen alle möglichen Angreifer aktiviert wird. Deshalb könnte sie auch gegen Covid-19 wirksam sein, argumentieren Forscher um Konstantin Chumakov jetzt im renommierten Journal Science.

Schluckimpfung half sogar gegen Krebs

Die Medizin spricht hier von den sogenannten nicht-spezifischen Effekten der Lebendimpfstoffe. Wie diese unspezifischen Effekte genau entstehen, ist noch nicht erforscht. Seit fast 50 Jahren ist aber bekannt, dass die Polio-Schluckimpfung das Gripperisiko erheblich senkt. So wurde bei klinischen Tests mit über 60.000 Teilnehmern in den 1960ern und 70ern nachgewiesen, dass das Sterblichkeitsrisiko der Grippe um das 3,8-fache gesenkt werden konnte durch eine Schluckimpfung.

Es zeigten sich außerdem therapeutische Effekte gegen genitales Herpes, die Heilung ging deutlich schneller. Auch konnte die Impfung gegen Krebs schützen, offenbar weil die Immunabwehr verstärkt gegen Krebszellen aktiv wurde. Nicht nur die Polioimpfung hat diese unspezifischen Schutzeffekte. Auch andere Enteroviren (zu denen Polio gehört) haben bei Lebendimpfungen ähnliche Wirkungen auf die Immunsysteme der Menschen. Studien zeigen, dass Grippeinfektionen deutlich gesenkt werden.

Auch Lebendimpfstoffe gegen Masern und Windpocken helfen offenbar

In den 1970ern wurden Neugeborene in Guinea-Bissau in Westafrika direkt nach der Geburt mit der Polio-Schluckimpfung geimpft. Die Kindersterblichkeit sank in der Folge um 32 Prozent. Bei anderen Studien zeigten sich ähnliche Wirkungen, selbst dann, wenn es in einer Gegend gar keine Polioviren mehr gab. Stattdessen senkten Auffrischungsimpfungen die Sterblichkeit immer weiter, bei jeder Wiederholung sank sie um weitere 13 Prozent.

Hinweise gibt es außerdem, dass auch andere Lebendimpfstoffe helfen, etwa gegen Masern oder Windpocken. So senkte ein Masern-Lebendimpfstoff die Sterblichkeit von Kindern um 50 Prozent. Nur vier Prozent davon entfielen auf den Schutzeffekt gegen die Masern selbst, der Rest war Schutz gegen andere Bedrohungen. Wie lange diese nicht spezifischen Schutzeffekte anhalten, ist bislang unbekannt. Beobachtungen deuten auf Monate bis Jahre hin.

Nebenwirkungen und Risiken verschwindend gering

Die Autoren der Studie glauben daher, dass eine neue Kampagne mit Schluckimpfungen auch gegen die Corona-Pandemie wirksam sein könnte. Beide Viren, sowohl Polio als auch Corona, gehören zu den Plusstrang-RNA-Viren, die Immunantworten könnten also ähnlich sein. Sie schlagen vor, sofort mit klinischen Studien zu beginnen.

Nebenwirkungen dieser Lebendimpfungen seien extrem selten, schreiben die Autoren. Nur in einem von drei Millionen Fällen könne es dazu kommen, dass die Lebendimpfung bei bislang nicht gegen Polio immunen Patienten eine lähmende Polio auslöse. Das passiere vorwiegend bei Kindern mit geschwächten Immunsystemen. Das Risiko lasse sich weiter senken, wenn zuerst mit einem Totimpfstoff gegen die Kinderlähmung geimpft werden. In den USA sei seit 35 Jahren kein einziger Fall mehr bekannt geworden, in dem eine Impfung zu einer Lähmung geführt habe.

Schluckimpfung für gesamte Bevölkerung

Einsetzen lasse sich die Schluckimpfung mindestens bei den Risikogruppen. Noch wirksamer sei sie wegen der Herdenimmunität aber, wenn die gesamte Bevölkerung in einem Schritt nochmal eine Schluckimpfung mache. Außerdem seien die nicht spezifischen Schutzeffekte auch dann wirksam, wenn das Saras-Coronavirus-2 nochmal mutiere und spezifische Impfstoffe unwirksam mache.

4 Kommentare

MDR-Team am 14.06.2020

Lieber Akel,
solche Fälle gab es, keine Frage. Aus Einzelfällen kann man allerdings nicht schlussfolgern, dass keine Studie richtig ist. Und glauben Sie nicht, das die Fälschung einer Studie von vor 50 Jahren mittlerweile aufgeflogen wäre?
Freundliche Grüße aus der MDR-Wissen-Redaktion

MDR-Team am 14.06.2020

Hallo Akel,
wir erstatten Bericht über die neuesten Erkenntnisse und Annahmen der Wissenschaft, wir bewerben kein Produkt. Unsere Quelle ist im Artikel klar angegeben ("argumentieren Forscher um Konstantin Chumakov jetzt im renommierten Journal Science."), gerne liefern wir Ihnen auch den Link zu der wissenschaftlichen Abhandlung (https://science.sciencemag.org/content/368/6496/1187). Darin sind alle Studien aufgelistet, in denen die getroffenen Behauptungen nachgewiesen sind. Erkenntnisse, die man teilweise seit fast 50 Jahren hat und als gesichert gelten. Das die Polio-Impfung gegen Corona hilft, wird auch nicht behauptet, wie Sie es in Ihrem ironischen Fallbeispiel tun, sondern auf Grund gesicherter Erkenntnisse wird dies angenommen und eine Überprüfung angeraten ("Die Autoren der Studie glauben daher, dass eine neue Kampagne mit Schluckimpfungen auch gegen die Corona-Pandemie wirksam sein könnte. [...] Sie schlagen vor, sofort mit klinischen Studien zu beginnen.")
Freundliche Grüße

pkeszler am 13.06.2020

Und manche Forscher glauben auch, dass die Corona-Ansteckung im Osten von Deutschland deshalb geringer ist, weil das Impfverhalten gegen regelmäßiges Impfen im Osten weit geringer war als im Westen. Dadurch wurden die Bürger mit der Zeit immun gegen ansteckende Krankheiten.