Großes, graues Tier von der Seite mit sehr runder Nase, sehr kleinen Augen, flossenartigen, angewinkelten Vorderarmen. Mund sieht aus als würde Sehkuh lächeln. Schwimmt im dunkelblauen Wasser.
Schaut lieb aus. Ist lieb. Seekuh. Bildrechte: imago images/Andrey Nekrasov

Dugong in China Seekühe: Die Staubsauger der Küstengewässer sind ausgestorben – oder doch nicht?

28. August 2022, 12:00 Uhr

Seekühe gelten jetzt in China als ausgestorben. Das trifft die Tierfamilie hart, weil sie ohnehin schon gefährdet ist. Dabei sind diese Meeresbewohner aus Urzeiten durchaus faszinierend bis ulkig und glänzen vor allem durch innere Schönheit. Nur, was macht ein ausgestorbenes Tier eigentlich zum ausgestorbenen Tier? Und warum leben manche ausgestorbenen Tiere noch? Dröseln wir das mal auf.

  • Seekühe sind neben Robben und Walen die dritte größere Ordnung an Meeressäugern
  • die gefährdeten Tiere gelten jetzt um China als funktional ausgestorben
  • Biologinnen und Biologen unterscheiden zwischen unterschiedlichen Ebenen des Aussterbens


Es gibt vor allem zwei Arten von Staubsaugern: Bodenstaubsauger mit dem langen Rüssel und Handstaubsauger mit dem langen Körper. Die mit dem langen Rüssel sehen aus wie Elefanten, das muss man schon sagen. Und die mit dem langen dicken Körper wie Seekühe. Es ist nicht nur bemerkenswert, dass Seekühe und Elefanten eng miteinander verwandt sind. Sondern auch, dass sich Seekühe so verhalten, als seien Sie ein Handstaubsauger (und zwar die klobigen der alten Generation). Zumindest auf eine Sorte trifft das zu.

Dugongs heißen sie, die letzten Verbliebenen ihrer Art und eine der wenigen in der Familie der Seekühe. Wenn sich Dugongs das Gras am Meeresboden zum Lunch einverleiben, hat es im Grunde den Anschein, als würde eine unsichtbare Hand mit einem großen Tier einen sandigen Boden absaugen. Also ein äußerst charmanter Anblick. Zumindest in China war's das jetzt aber mit dem Charme.

Großes, graues Tier mit sehr kleinen Augen von vorn an Meeresgrund, scheint mit der Schnauze zu saugen und Staub aufzuwirbeln, daneben ein kleiner tropischer Fisch.
Jetzt noch das Schwänzchen hoch und der Staubsauger ist perfekt. Bildrechte: imago/StockTrek Images

Forschende haben Dugong-Seekühe dort als funktional ausgestorben erklärt, weil sie kaum noch gesehen wurden. Schon allein dieser Satz wirft nicht nur bei Seekuh-Unkundigen Fragen auf. Erstens: Was heißt hier "funktional ausgestorben"? Zweitens: Wie passt "kaum noch gesehen" zu "ausgestorben"? Und drittens: Was sind Seekühe gleich noch mal für Tiere?

Fangen wir hinten an: Die Säugetiere wohnen im Meer, ohne Fische zu sein. Das macht sie vergleichbar mit der Gruppe der Wale und der Robben, die anderen beiden großen Meeressäuger. Trotzdem, wie oben erwähnt: Nächste Verwandte sind Elefanten. (Doch Obacht: Seeelefanten sind wiederum sehr große Robben.)

Unter anderem eine Schwanzfrage

Beim Thema Seekuh lässt sich weiterhin feststellen, dass Seekuh nicht Seekuh ist, auf der anderen Seite aber auch nicht allzu viel unterschieden werden muss. Da gibt es die bereits erwähnten Dugongs zum einen und Manatis zum anderen. Faust- bzw. Schwanzregel: Dugongs haben hinten eine halbmondförmige Flosse, sie werden auch Gabelschwanzseekühe genannt. Bei Manatis ist die Schwanzflosse rund oder spatenförmig. Manatis tummeln sich zwischen Westafrika und den Amerikas, wobei sie nicht gerade Hochseetiere sind, sondern sich in Küstennähe aufhalten. Es existieren drei Arten: Afrikanische Manatis (gefährdet!), Karibik-Manatis (gefährdet, auch Amerikanische Seekuh) und Amazonas-Manatis (gefährdet). Letztere sind besonders faszinierend, da es sich um die kleinste lebende Seekuhart handelt und die einzige, die im Süßwasser beheimatet ist. Zudem halten sie es mit dem Stoffwechsel entspannt: Die Langsamkeit hilft ihnen, monatelang ohne Nahrung auskommen zu können.

Seekuh vs. Seekuh

Karibik-Manati links, Dugong rechts

Großes, graues Tier mit flossenartigen Vorderarmen und rundlich-spatenförmiger Schwanzflosse schwimmt im klaren blauen Wasser, daneben schnorchelnde Person. Tier wirkt mit dem Rücken gekrümmt. Sonnenstrahlen im Wasser.
Karibik-Manati (Amerikanische Seekuh) Karibik-Manati (Amerikanische Seekuh) Bildrechte: imago images/imagebroker
Großes, graues Tier mit flossenartigen Vorderarmen und rundlich-spatenförmiger Schwanzflosse schwimmt im klaren blauen Wasser, daneben schnorchelnde Person. Tier wirkt mit dem Rücken gekrümmt. Sonnenstrahlen im Wasser.
Karibik-Manati (Amerikanische Seekuh) Karibik-Manati (Amerikanische Seekuh) Bildrechte: imago images/imagebroker
Großes, graues Tier mit flossenartigen Vorderarmen und Schwanzflosse schwimmten im klaren blauen Wasser. Darüber schnorchelnde Person.
Dugong Dugong Bildrechte: imago/UIG
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Nicht minder faszinierend ist wahrscheinlich Stellers Seekuh, sozusagen das Gegenteil vom Amazonas-Manati. Ein mächtiges Tier: Mit bis zu acht Metern Länge und zehn Tonnen Gewicht übertrifft sie alle Verwandten. Die auch Borkentier genannte imposante Erscheinung wurde von ihrem Namensgeber Georg Wilhelm Steller Mitte des 18. Jahrhunderts in der Beringsee gesichtet, dem Gewässer zwischen Alaska und Kamtschatka im Osten Russlands. Borkentier, weil es im Gegensatz zur tropischen Verwandtschaft mit dicker Haut gegen kaltes Wasser gesegnet war. Vermutlich gab es damals nur noch wenige tausend Exemplare – und 27 Jahre später gar keine mehr, als das letzte Exemplar Menschen zum Opfer fiel. Das könnte demnächst auch den Dugongs blühen.

Illustration eines großen Meeressäugetier, das am Kopf an eine Robbe, sonst eher an einen Wal erinnert.
Robbe oder Wal? Stellersche Seekuh, wie sie ausgesehen haben mag. Bildrechte: IMAGO / agefotostock

Während sich Manatis in Atlantik und Amazonas aufhalten, leben Dugongs eine Globusumdrehung weiter. Ihren lateinischen Namen kann man sich verhältnismäßig gut merken: Dugong dugong. Das Verbreitungsgebiet liegt so grob zwischen Ostafrika, der arabischen Halbinsel und Australien. Nur um letztgenannten Kontinent leben die Tiere noch in Hülle und Fülle, etwa 80.000 vermutet man. Im restlichen Lebensraum sind die Bestände stark bedroht oder kaum noch vorhanden. Das liegt zum Beispiel an den Seegraswiesen, über die Dugongs zur Essenszeit mit staubsaugender Anmutung gleiten. Diese empfindlichen Ökosysteme sind durch eine Vielzahl (menschgemachter) Einflüsse bedroht. Ohne Bergwiese keine Alpenkuh – und ohne Seegraswiese eben keine Seekuh.

So wie in Chinas Küstengewässern. Dort gilt die Seekuh nun also als funktional ausgestorben. Eigentlich müsste dieser Satz mehr Raum bekommen, es geht hier schließlich um eine Tierart in ihrem natürlichen Lebensraum (man denke nur, es wäre andersrum, und wir müssten vermelden: 'Der Mensch gilt fortan in der Lausitz, der Vulkaneifel und dem Berchtesgadener Land als funktional ausgestorben.'). Dennoch, zur Sache: Der Begriff "funktional" unterstellt, dass ausgestorben nicht gleich ausgestorben ist. Nähern wir uns der Thematik am besten dort, wo Aussterben System hat:

Screenshot eines Webbrowsers mit geöffneter Webseite IUCN Rote Liste, Eintragt für Dugong mit Foto und Einstufung "gefährdet".
Dugong: Auf der Roten Liste als gefährdet kategorisiert Bildrechte: Screenshot

Erste Anlaufstelle, wenn es um bedrohte oder ausgestorbene Tiere geht, ist die IUCN. Die Nichtregierungsorganisation hieß mal Weltnaturschutzorganisation und heutzutage Internationale Union zur Bewahrung der Natur (engl. International Union for Conservation of Nature), sitzt in der Schweiz und ist sowas wie ein weltweiter Dachverband, wenn es um Naturschutz geht. Das unterstreichen die zahlreichen Mitglieder, die schon allein in Deutschland mit dabei sind. Zum Beispiel das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (merken Sie sich einfach BMUV). Aber auch der Nabu, der WWF Deutschland und neben den Zoologischen Gärten in Stuttgart und Köln auch der Zoo Leipzig.

Was heißt "ausgestorben"?

Zwei grafische Kategorie-Siegel in Kreisform mit Spitze nach oben rechts. Rotes Siegel für "Extinct in the wirld" mit Erklärung "Ausgestorben in freier Wildbahn" und Schwarzes Siegel mit "Extinct" und Erklärung "Ausgestorben".
Bildrechte: IUCN/MDR WISSEN

Die IUCN hat auch den Hut auf, zu definieren, was ausgestorben eigentlich heißt. Der Organisation zu Folge darf es diesbezüglich keinen sinnhaften Zweifel mehr geben, dass ein Tier ausgestorben ist, nachdem gründliche Untersuchungen im Verbreitungsgebiet des Tiers angestellt wurden. Hier ist besonders der Zeitraum ausschlaggebend – der variiert je nach Lebenszyklus einer Art. Gilt natürlich nicht nur für Tiere, sondern auch für Pflanzen und Pilze.

Auch die mittlerweile schon sprichwörtliche Rote Liste (der gefährdeten Arten) wird von der IUCN verwaltet. Dort gibt's erstmal zwei Kategorien für den Zustand "Ausgestorben": Extinct in the wild (EW, Ausgestorben in freier Wildbahn) beschreibt den Zustand, dass eine Art in ihrem natürlichen Verbreitungsraum nicht mehr vorkommt, aber noch weit jenseits dessen vorzufinden ist – da fallen einem zum Beispiel Zoos ein. Das Kategorie-Siegel Extinct (EX) – das dem Zustand entsprechend nicht mehr rot, sondern schwarz illustriert wird – steht für die letzte Konsequenz: Die Art existiert erwiesenermaßen nicht mehr auf unserer Erde.

Ausgestorben: Es geht noch genauer!

Während die Rote Liste noch weitere Kategorien für gefährdete und vorm Aussterben bedrohte Arten mit sich bringt, lässt sich auch die Angelegenheit des Ausgestorbenseins noch weiter vertiefen: Da wäre zum Beispiel der Zustand …

Regional ausgestorben Dieser Zustand trifft auch auf Dugong-Seekühe zu. Chinas Küstengewässer haben zu seinem natürlichen Lebensraum gezählt. Das Tier ist dort jetzt nicht mehr anzutreffen und fehlt möglicherweise dem regionalen Ökosystem.

Folgerichtig gibt's dann auch den Zustand …

Funktional ausgestorben Biologinnen und Biologen sprechen von funktional ausgestorben, wenn so ziemlich klar ist, dass eine Art ihre Rolle im Ökosystem nicht mehr erfüllen kann. Die Restbestände sind in ihrem Genpool zudem so stark reduziert, dass sie auf lange Sicht nicht selbstständig überleben können. Bei den Arten kommt es zu Inzucht-Verhalten mit entsprechenden Folgen für die Gesundheit.

Das erklärt nun auch, warum Dugongs in China ausgestorben sind, obwohl sie noch vereinzelt gesichtet wurden. Es kann also sein, dass noch vereinzelt Tiere dieser Art existieren. Aber für das große Ganze ist es so, als würde es sie schon nicht mehr geben.

Großes, graues Tier mit flossenartigen Vorderarmen und Schwanzflosse schwimmten im klaren blauen Wasser, Oberfläche sichtbar von unten mit Sonnenlicht. Ansicht nach schräg hinten – Tier hat eine resignierte, etwas traurige Anmutung.
Ob diese Dugong-Seekuh traurig ist, wissen wir nicht – aber wenn, hätte sie allen Grund. Bildrechte: imago images/VWPics

Alles eine Frage der Zählung, wie vor einiger Zeit die Koalas gezeigt haben, deren Schmuseästhetik das Artensterben für viele Menschen durchaus greifbar macht. 2019 wurden die Tiere teilweise als funktional ausgestorben erklärt. Eine falsche Einschätzung, wie sich herausstellte, was ihrem Status als stark gefährdete Tierart natürlich keinen Abbruch tut. Sie zu zählen ist nämlich gar nicht so einfach.

Seekuh: Wurde jüngst nur dreimal gesehen

Mann in leuchtend-organgefarbener Arbeitskleidung rettet Koala mit angebranntem Fell in einem durch Waldbrand geschädigtem Waldgebiet. Hält das Tier in den Armen, blickt angestrengt nach unten.
Koala-Rettung bei den Buschbränden in Australien Anfang 2020. Bildrechte: imago images/AAP

Im Falle der Dugongs erklären die Forschenden ihre Datenerhebung so: Um herauszufinden, wie es um die Seekühe steht, habe man "eine groß angelegte Befragung von Nutzenden mariner Ressourcen [also Fischerinnen und Fischer] in vier chinesischen Provinzen durchgeführt und alle verfügbaren historischen Daten über die frühere Verbreitung von Dugongs in chinesischen Gewässern überprüft", schreiben sie im Wissenschaftsjournal Royal Society Open Science. Im Ergebnis haben nur fünf Prozent der 788 Befragten in der Vergangenheit die Tiere gesehen, wobei hier durchschnittlich von vor 23 Jahren die Rede ist – zur Jahrtausendwende also. Gerade einmal drei der Befragten gaben an, so ein Tier in den vergangenen fünf Jahren zu Gesicht bekommen zu haben. Ebenfalls seit der Jahrtausendwende gab es keine verifizierten Feldbeobachtungen mehr.

Die Forschenden kommen zu dem Schluss, dass die Tiere rund um China praktisch ausgestorben sind. Das ist gleich in zweifacher Hinsicht bedrückend: Es ist zum einen das erste festgestellte Aussterben eines großen Wirbeltiers in chinesischen Meeresgewässern. Zum anderen ist China Gastgeber der diesjährigen UN-Artenschutzkonferenz (COP15 Convention on Biological Diversity), auch wenn die Ende des Jahres in Kanada verortet sein wird.

Hoffnung stirbt zuletzt aus

Nun kann man nur hoffen. Zum Beispiel, dass sich doch noch genügend Seekühe herumtummeln, die genug Seegras finden, um irgendwie fortpflanzungstechnisch über die Runden zu kommen. Oder dass es solche aus anderen Gewässern irgendwie schaffen, überzusiedeln. Dadurch, dass Dugongs nichts mit der Hoch- und Tiefsee am Hut haben und der Küste zugeneigt sind, ist das alles nicht so einfach.

Vielleicht hilft es ja auch schon, den zumindest mit innerer Schönheit gesegneten herzensguten Tieren einfach noch mal in die Augen zu schauen. Bitteschön:

Nahaufnahme Gesicht von großem, dunkelgrauen Tier mit kleinen Augen, Nasenlöchern und etwas borstiger Schnauze. Niedlich durch leichte Fish-Eye-Verzerrung. Blaues Wasser.
Schauen Sie mir in die Augen und nicht auf die Bildunterschrift! Bildrechte: imago/StockTrek Images

Studie

Die Studie Functional extinction of dugongs in China erschien im August 2022 im Journal Royal Society Open Science.

DOI: 10.1098/rsos.211994

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