Farbrolle malt in Regenbogenfarben
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LGBTQ+ lernen Wer bin ich und wie finde ich den Weg zu mir?

18. Juli 2022, 14:14 Uhr

Viele Jahrzehnte lang sind wir mit klaren Rollenbildern aufgewachsen: Ein Mann ist ein Mann und eine Frau ist eine Frau. Zusammen gründen sie, zumindest in unserem Kulturkreis, eine Familie. Doch plötzlich ist unsere Welt viel bunter. Wie lernen Kinder und Jugendliche, darin zu leben? Wir haben mit Heinz-Jürgen Voß, Professor für Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg darüber gesprochen.

Vielfalt und Offenheit erleben zu dürfen, das sind für Prof. Heinz-Jürgen Voß die wichtigsten Voraussetzungen für Kinder und Jugendliche, sich selbst zu finden, auch in geschlechtlicher und sexueller Hinsicht. Dazu gehört für ihn neben vielseitigen Bildungs- und Freizeitangebote vor allem, verschiedene Lebenswirklichkeiten außerhalb von Zuhause kennenlernen zu können. Auch wenn wir in unserer Gesellschaft nach wie vor mehrheitlich Männer und Frauen haben und viele klassische Kleinfamilien, so werden doch auch Regenbogenfamilien, Trans- und Interpersonen zunehmend sichtbar. Davon könnten Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung und Identitätsfindung profitieren. Ein große Rolle spiele aber auch, wie bereit Eltern, Erzieher und Lehrer für offene Gespräche sind.

Kinder müssen Fragen stellen dürfen, auf die sie ehrliche Antworten bekommen. Wir sollten nichts tabuisieren und ihnen nicht unsere Vorstellungen aufdrängen.

Heinz-Jürgen Voß, Prof. für Sexualwissenschaften und Sexuelle Bildung, Hochschule Merseburg

Doch damit täten sich besonders diejenigen schwer, die in einer anderen Zeit aufgewachsen sind. Die in der Schule noch gelernt haben, dass alles, was von der Norm abweicht, verändert oder beseitigt werden muss. Mit ihnen ins Gespräch zu kommen, Impulse zur Annäherung zu geben, darin sieht Heinz-Jürgen Voß unter anderem die Aufgabe seiner Wissenschaft. Seitens der Kinder und Jugendlichen, aber auch vieler Erzieher und Lehrer erlebt er hingegen große Offenheit. „Zum Beispiel wird der Medienkoffer für Sachsen-Anhalt ´Geschlechtervielfalt und Vielfalt der Familienformen´ von Kitas und Schulen sehr geschätzt. Das darin enthaltene Material hilft, die Themen, die bewegen, anzusprechen: Dass ein Kind sich nicht schämen muss, weil es zwei Mütter hat. Dass ein Junge sich nicht verstecken muss, wenn er gern mit Puppen spielt oder Kleider anziehen möchte.“ Ähnliche Materialsammlungen gibt es inzwischen in verschiedenen Regionen, sie entstehen immer in Zusammenarbeit mit Experten aus Praxis und Wissenschaft, wie Prof. Voß und seinen Kollegen.

Doktorspiele: Nicht nur reden, auch ausprobieren

Dazu ermutigt der Sexualwissenschaftler. Wer den eigenen Körper unbeschwert entdecken darf, wer mit eigenen Augen sehen kann, wie unterschiedlich wir alle in vielerlei Hinsicht sind, wer positive Begriffe für sich findet, gewinne auch Sicherheit bei der Ausbildung seiner eigenen geschlechtlichen Identität. Die Sorge, zu viel Präsenz von LGBTQ+ in den Medien, zu viel Sichtbarkeit fördere eine sexuelle Neuorientierung Heranwachsender, teilt er keineswegs. Im Gegenteil: Die psychosexuelle Entwicklung und damit auch der Weg zu einem entsprechenden Selbstverständnis seien von vielen Faktoren geprägt. Nur weil ein Kind ein Buch über eine Regenbogenfamlie anschaut, wird es nicht homosexuell. Und es wird auch keine Transperson, wenn es durch die Sendung mit der Maus eine kennenlernt. All das sieht Heinz-Jürgen Voß als Aufklärung im allerbesten Sinne, die Kinder und Jugendlichen in im Hinblick auf die körperliche Selbstbestimmung nur stärken.

Wer sich wohlfühlt in seiner Haut, denkt nicht an Suizid

Der Weg zur Transidentität ist nach wie vor steinig. Auch wenn sich die Stigmatisierung in den letzten Jahren verringert hat und Diskriminierung und Benachteiligung zumindest in Einrichtungen per Gesetz seit 2021 nicht mehr erlaubt sind, sehen sich Betroffene im Alltag immer noch Repressalien ausgesetzt. Hinzu kommen Selbstzweifel. Diese Psychische Belastung führt nicht selten zu Suizidgedanken. Laut einer Studie aus Kanada gaben rund 14 Prozent der Transgender-Jugendlichen und Jugendlichen sexueller Minderheiten an, in den letzten 12 Monaten ernsthaft an Suizid gedacht zu haben. Deshalb sei es so wichtig, vielseitige Angebote zu unterbreiten, die einerseits Sicherheit vermitteln, andererseits aber auch Verständnis und Einfühlungsvermögen. Dann fühlten sich die Betroffenen auch angenommen und es ginge ihnen wesentlich besser.

LGBTQ im Kindergarten?

Sind Kindergarten- und Grundschulkinder zu jung, um sie mit dem Thema sexuelle und geschlechtliche Diversität zu konfrontieren? Wenn es altersgerecht geschieht, keineswegs. Denn laut einer Untersuchung von Stefan Timmermanns und seinen Kollegen gaben etwa ein Drittel der von ihm befragten Transpersonen an, bereits bis zu ihrem 5. Lebensjahr wahrgenommen zu haben, dass sie anders sind. Weitere 40 Prozent wussten es bis zu ihrem 10. Lebensjahr. Die Geschlechtsidentität präge sich also sehr früh aus, entsprechend früh müsse man den Kindern und Jugendlichen Angebote unterbreiten, sich damit auseinanderzusetzen.

Gleichstellung auch für Minderjährige - wo stehen wir?

Prof. Voß sieht Deutschland im Hinblick auf die Gleichstellung von LGBTQ+Personen im Vergleich mit anderen Ländern im Mittelfeld. Im Hinblick auf das noch immer nicht verabschiedete Selbstbestimmungsgesetzt, das die Lebensumstände für trans- und intergeschlechtliche Menschen verbessern und geschlechtliche Vielfalt anerkennen soll, sind wir eher das Schlusslicht, hinter Ländern wie Cuba, Pakistan, Argentinien und Malta. Das neue Gesetz soll das überholte und in vielen Punkten vom Bundesverfassungsgericht nicht anerkannte Transsexuellengesetz ablösen und auch für Minderjährige vieles leichter machen. So können auch Kinder- und Jugendliche bis 14 Jahren eine Änderungserklärung zum Geschlecht beim Standesamt abgeben, vertreten durch die Sorgeberechtigten. Ab 14 Jahren können es die Jugendlichen selbst, mit Zustimmung der Sorgeberechtigen. Willigen diese nicht ein, kann ein Familiengericht, orientiert am Kindeswohl, die Entscheidung treffen.

Übrigens: Das Rollendilemma hatten wir nicht immer

So klar, wie wir die Rollenzuweisung und geschlechtliche Identität von Männern und Frauen in den letzten Jahrzehnten erlebt und gelebt haben, war sie nicht immer. Die Kleinfamilie mit Mutter, Vater und Kindern, wie wir sie heute kennen, entwickelte sich erst mit der bürgerlichen Gesellschaft, also erst seit dem 18. Jahrhundert. Im Mittelalter gehörte zur Familie der ganze Haustand samt Mägden und Knechten, oft auf engstem Raum. So lernten Kinder von klein auf verschiedene Lebensrealtiäten im Alltag kennen. Auch die Frage nach den Geschlechterrollen sei damals nicht so relevant gewesen wie heute, beschreibt. Prof. Heinz-Jürgen Voß. Diese geschlechtsbezogene Zuweisung von Versorgungsarbeit, Sorgearbeit und Reproduktionsarbeit wie es der Wissenschaftler nennt, kannte man damals nicht. Genausowenig wie das starre Verständnis von sexueller Orientierung wie heterosexuell, homosexuell und bisexuell. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts habe sich das entwickelt und sich dann für lange Zeit vor allem in der Arbeiterschaft etabliert.

„Da war es noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts völlig unverdächtig, wenn zwei Männer Händchen haltend liefen oder einander zu Bettgenossen machten.“

Prof. Heinz-Jürgen Voß

Das sei unter anderem auch den Lebensbedingungen damals geschuldet gewesen, als viele Menschen auf engstem Raum lebten und eine klare Abtrennung einer Kleinfamilie gar nicht möglich war. Unsere Sexualität sein also, je nach den gesellschaftlichen Bedingungen, immer schon in Veränderung gewesen.

krm