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VerkehrspsychologieTicketpreise – wann ist Schluss mit lustig für die Mobilitätswende?

02. November 2021, 17:06 Uhr

Ein paar Statiönchen mit S-Bahn und Tram kosten in Leipzig seit August drei Euro. Diese magische Grenze ist in Mitteldeutschland damit erstmals erreicht worden. Doch ist sie wirklich so magisch? Und kann die Mobilitätswende mit so hohen Fahrpreisen klappen? Der Blick der Forschung ist eher nüchtern.

von Florian Zinner

  • ÖPNV-Einzelfahrten haben in Leipzig ein mitteldeutsches Rekordniveau erreicht
  • Was als teuer empfunden wird, hängt von vielen Faktoren ab
  • Preise allein entscheiden nicht über die Mobilitätswende


Kino, Kita, Kramerlädchen – Sie kennen die Liste. Die Gründe, einen Weg in der Stadt zurückzulegen sind gleichermaßen vielfältig wie die Möglichkeiten, ebendies auch zu tun. Auch ohne eigenen Wagen. Mit dem Fahrrad oder per pedes dürfte sich eine Strecke am günstigsten bewältigen lassen. Bei längeren Wegen gibt's den Nahverkehr oder Carsharing, also einen Mietwagen für einen kurzen Zeitraum. Aus Sicht des Geldbeutels sind ÖPNV oder Carsharing inzwischen zwei gleichwertige Optionen, zumindest in Leipzig. Drei Euro, so viel kostet eine Einzelfahrt in Bus, Straßen- oder S-Bahn. Potenzielle Fahrgäste kommen dafür auch mit dem Carsharing-Wagen einige Kilometer weit. Der hat zwar einen Verbrennungsmotor, ist dafür aber eben ziemlich bequem und ohne Fahrplan verfügbar.

ÖPNV und Carsharing preislich gleichauf

Das betrifft vor allem die Autos vom Typ "Freefloating", also "frei umhertreibend". Die Dinger stehen irgendwo in der Stadt und können irgendwo (also vorzugsweise auf einem offiziellen Parkplatz) abgestellt werden. Diese für die Kurzstrecke ausgelegten Cityflitzer sollen eigentlich nur eine Ergänzung zum ÖPNV sein, das betont der Betreiber teilAuto auf Anfrage von MDR WISSEN. Nutzenden dürfte das allerdings herzlich egal sein, schließlich wählen sie ihr Verkehrsmittel nach Kosten und Zeitaufwand aus, erklärt Jens Schade, Verkehrspsychologe an der TU Dresden. Doch nicht nur das: "Ein wichtiger Punkt ist, dass Menschen soziale Wesen sind, sich also zum Beispiel an den Erwartungen oder auch am Verhalten Anderer orientieren."

Das heißt: Wenn jemand keine Straßenbahn fährt, weil die gefühlt zu teuer ist, tun's die Freund*innen möglicherweise auch nicht. Und wenn im persönlichen Dunstkreis Carsharing als günstig und nachhaltig gilt, könnte auch die eigene Tendenz zu S-Bahn und Bus eher gering sein.

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Nur: Was ist schon teuer? Was als teuer gelte, hänge von der individuellen Wahrnehmung der Fahrgäste ab, erklärt Markus Husemann-Kopetzky, der unter anderem als Preisforscher an der Universität Paderborn arbeitet. Und das funktioniert so: Im Kopf packen wir Preise in Schubladen. Zum Beispiel "günstig", "noch okay" oder "zu teuer". Und, das können Sie glauben oder nicht, es gibt auch noch das Kästchen für "zu billig" – also unglaubwürdig günstige Preise, die an der Qualität zweifeln lassen. Im ohnehin subventionierten Nahverkehr spielt diese Kategorie allerdings eher keine Rolle.

Teuer oder nicht? Frag den internen Referenzpreis!

In welcher Schublade ein spezieller Preis lande, bestimme der sogenannte interne Referenzpreis. "Dieser interne Referenzpreis hat damit zu tun, wie oft ich schon einen bestimmten Preis für eine Fahrt gezahlt habe, was ich als vernünftigen Preis erwarte und was meine Kosten für alternative Transportwege sind." So ein Referenzpreis unterscheide sich je nach Umfeld. Und Leipzig ist eher kein typisches Umfeld für eine Drei-Euro-Einzelfahrt. Angesichts der geringen Kaufkraft dürfte die Schmerzgrenze hier inzwischen erreicht sein, schätzt Preisforscher Husemann-Kopetzky.

Kurzer Blick in andere Städte: In der mittelsächsischen Schwester Dresden kostet eine Einzelfahrt 2,50 Euro. Im Verkehrsverbund Oberelbe (VVO) gilt allerdings der gleiche Preis für alle Tarifzonen, egal ob Großstadt oder ländlicher Raum. Der Mitteldeutsche Verkehrsverbund (MDV) betont an dieser Stelle gegenüber MDR WISSEN, dass ein Vergleich mit dem VVO schlecht möglich sei, da das Nahverkehrsangebot um den Ballungsraum Leipzig-Halle deutlich umfangreicher sei.

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Interessant ist auch das Beispiel München – mehr als doppelt so groß wie Leipzig und im Hinblick auf die Kaufkraft so ziemlich das Gegenteil der mitteldeutschen Metropole. Hier kostet eine Einzelfahrt nur vierzig Cent mehr – mit dem Unterschied, dass der Fahrschein zwei Stunden lang gilt und neben Tram, Bus und S-Bahn auch ein komplettes U-Bahn-System mit schnellen Bahnen im hohen Takt zur Verfügung steht (das Stadtgebiet selbst ist ähnlich groß). Do legst di nieda …

Dickes Ticket oder dicker Stau – was darf's denn sein? Bildrechte: imago images/Christian Grube

Die Entstehung eines Fahrpreises ist von vielen Faktoren abhängig. Eine große Rolle spielen Zuschüsse der Städte und Gemeinden sowie von Land und Bundesrepublik. Auch die Tarifstruktur ist von Ort zu Ort höchst unterschiedlich und, eben je nach Sichtweise, mal mehr oder weniger attraktiv. Teilweise gelten Tageskarten nur bis zur Geisterstunde, teilweise 24 Stunden lang. Mal dürfen Tickets nur in eine Richtung benutzt werden (macht man ja ohnehin meistens so), andere erlauben munteres Im-Kreis-fahren. Die Messlatte in der öffentlichen Wahrnehmung ist aber, neben den Kosten für ein Jahresabo, der Preis eines Einzelfahrscheins. Der ist in den Jahren seit Gründung des MDV – wie anderswo auch – kontinuierlich gestiegen. Ein Moratorium der Stadt Leipzig bremste das ein paar Jahre lang, ist aber inzwischen ausgelaufen.

Steigende Fahrgastzahlen trotz steigender Fahrpreise

Der MDV verweist auf stetig steigende Fahrgastzahlen, auch zum Zeitpunkt von Tarifanpassungen. Vielleicht verkauft der Verbund seine Ticketpreise auch einfach gut. Denn Verkehrsverbünde können die Wahrnehmung der Fahrtkosten aktiv verändern, Stichwort Marketing. "Sie können beispielsweise neben dem Preis die Botschaft mitgeben, das Ticket sei günstiger als ein Parkschein für zwei Stunden", erklärt Markus Husemann-Kopetzky. Zusatzangebote wie Vergünstigungen bei Partnern ("Gehen Sie doch mal in den Zoologischen Garten! Sie bekommen auch ein Brillenputztuch gratis.") seien ebenfalls ein beliebtes Mittel. Auch die Bezahlart sei wichtig, damit ein Preis als nicht zu teuer empfunden werde: Bargeldlose Ticketkäufe mit Karte oder Smartphone zum einen, runde Summen, bei denen Münzen nicht aufwändig abgezählt werden müssen, zum anderen. Hier beißt sich die Preiskatze natürlich in den Schwanz: Gerade Preise in Supermarktmanier wie "2,99" sind höchst unrund, klingen aber bekanntermaßen besser als 3 Euro. Stehen allerdings 3,10 Euro oder 2,90 Euro für eine Einzelfahrt zur Debatte, ist klar, wo die Reise hingehen sollte.

Man gewöhnt sich

Bei aller Bemühung, ein teures Ticket nicht all zu teuer aussehen zu lassen, sei bemerkt: Die Zeit heilt eh alle Wunden im Geldbeutel, denn der interne Referenzpreis wird auch aus der Erfahrung gespeist. Preisforscher Markus Husemann-Kopetzky: "Wenn wir jetzt davon ausgehen, dass wir jetzt mehrmals mit dem Bus gefahren sind und dann mehrmals drei Euro gezahlt haben, wird sich das Beschweren darüber stark reduzieren." Also einfach aussitzen, oder?

Ob Autofahrende schon bemerkt haben, dass die Tram-Station Goerdelering kürzlich auf Vordermann gebracht wurde? Bildrechte: imago images/Manfred Segerer

Menschen, die keine Alternative zum Nahverkehr hätten, müssen und werden Preiserhöhungen ohnehin schlichtweg akzeptieren, erklärt Verkehrspsychologe Jens Schade. Denn wer keinen Führerschein hat, dem nutzt auch Carsharing nichts. Letztenendes sei der Fahrpreis für die Mobilitätswende aber auch gar nicht so wichtig. Wer sich ein Auto leisten könne, bei dem scheitere es unterm Strich auch nicht am Budget für ein Nahverkehrsticket. "Grundsätzlich hat sich gezeigt, dass der Zugang so einfach wie möglich sein muss. Zum Beispiel auch die Verständlichkeit und das Ticketsystem."

Außerdem reiche es nicht, das Nahverkehrsangebot zu verbessern, um Menschen zum Umsteigen zu motivieren. Autofahrende würden die Verbesserungen gar nicht erst bemerken, an der hochgetakteten Straßenbahn quasi vorbeitingeln. Viel mehr lohnt sich ein Blick nach Stockholm. Eine Citymaut hat den Individualverkehr dort schlichtweg unattraktiv gemacht. Und wirft gleichzeitig Geld für einen besseren Nahverkehr ab. Menschen, denen Privatwagen oder Carsharing dann immer noch nicht zu teuer sind, hätten im Übrigen ganz nebenbei auch etwas davon: nämlich viel häufiger freie Fahrt. Eine Förderung des Nahverkehrs kommt also auch KFZ-Fans zugute. Wer hätte das gedacht?

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