GeografieHöchster Berg Europas: Mont Blanc oder Elbrus?
Ja, welcher Berg ist denn nun der höchste Europas? Die einen sagen so, die anderen so. Die ultimative und gleichzeitig sicher für manche unbefriedigende Antwort lautet: Es kommt darauf an.
4.806 Meter (Mont Blanc) gegen 5.642 Meter (Elbrus). Die Frage, welcher der beiden Berge der höhere ist, ist schnell zu beantworten. Bei der Frage, welcher der beiden der höchste Europas ist, muss man dann schon etwas mehr Zeit mitbringen, und vielleicht wird diese Frage sogar niemals zufriedenstellend (im Sinne von klar) beantwortet werden können.
Es geht natürlich darum, ob der Elbrus zu Europa gehört oder nicht und also um die Frage, wo die Grenze zwischen Europa und Asien verläuft. Aber diesen "einen wahren" Grenzverlauf gibt es nicht, sagt Sebastian Lentz, Geografie-Professor und Direktor des Leibniz-Instituts für Länderkunde in Leipzig, und zwar, "weil Europa und Asien gesellschaftliche Konstrukte sind". Geologen würden laut Lentz wahrscheinlich eine andere Grenzziehung vorschlagen als Sozialwissenschaftler oder Kulturgeografen, wobei viele so definierte Grenzen sich im Laufe der Jahrhunderte verschoben haben, und das hängt, so Lentz, "jeweils davon ab, welche Kriterien dem Gegenstand Europa oder dem Gegenstand Asien zugeschrieben werden."
Der Wert, zu einem bestimmten Teil der Welt zu gehören, sei hoch, findet Sebastian Lentz. "Ist man zum Beispiel in der öffentlichen Wahrnehmung ein europäischer Staat, dann gibt es ganz andere Angebote an diesen Staat, als wenn man sagt: 'Naja, die sind sowieso Asien, und die sind ganz anders'." Die Grenze zwischen Europa und Asien sei also eine historisch ständig neu ausgehandelte Tatsache.
Auf den Bosporus als Teil der Grenze hat man sich historisch irgendwie geeinigt. Das war schon immer so, auch wenn es bedeutet, dass mit Istanbul eine zusammengehörende Stadt auf zwei Kontinenten liegt. Vom Mittelmeer bis zum Schwarzen Meer ist die Grenze damit definiert. Aber wie geht es zwischen Schwarzem Meer und Kaspischem Meer weiter? Hier beginnt das erwähnte "ständige neue Aushandeln" des Grenzverlaufs, und zwar schon bei den alten Griechen.
Muss ein Kontinent immer von Wasser umgeben sein?
Die Geografie im antiken Griechenland war wie so vieles damals sehr philosophisch geprägt. Damals wurde der Begriff des Kontinents überhaupt erst eingeführt, erklärt Institutsdirektor Lentz. Und ein Kontinent war demnach "ein größeres Stück fester Erde, das bitteschön ringsum von Wasser umgeben sein solle."
Nach solchem Wasser, das in ihrer Weltsicht als Kontinentalgrenze funktioniert, hielten die Griechen also immer Ausschau. Der Geschichtsschreiber und Geograf Herodot fertigte im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung eine Karte der ihm bekannten Welt an und bewies dabei durchaus "Mut zur Lücke". Denn was zum Beispiel nordöstlich des Kaspischen Meeres lag, wussten die Griechen damals nicht, und es interessierte sie wohl auch nicht sonderlich.
Interessant ist aber, dass ein Fluss namens Phasis die Grenze zwischen Europa und Asien darstellen sollte. Von diesem Fluss kannten die Griechen wohl nur den Unterlauf, aber sie dachten, dass er Schwarzes und Kaspisches Meer verbindet. Inzwischen ist klar, dass damit der heute drittlängste Fluss Georgiens namens Rioni gemeint war. Nur hat er mit dem Kaspischen Meer rein gar nichts zu tun, er entspringt im Kaukasus und fließt dann in einer Südwestkurve ins Schwarze Meer. Herodot kannte aber eben nur den letzten Teil des Flusses, setzte dort die Grenze an und zog sie gedanklich nach Osten weiter. Würde man dieser Grenzziehung heute folgen, läge der gesamte Kaukasus mit Elbrus und vielen weiteren Fünftausendern in Europa.
Der Don als Grenzfluss
Vom 3. Jahrhundert vor bis zum 2. Jahrhundert nach Christi Geburt setzte sich bei griechischen Gelehrten aber eine völlig andere Grenze zwischen Europa und Asien durch. Eratosthenes von Kyrene und Claudius Ptolemäus waren dafür hauptverantwortlich, sie sahen beide im Abstand von etwa 400 Jahren den heutigen Fluss Don, den sie damals Tanaïs nannten, als Grenzfluss an. Diese Ansicht war dann sehr, sehr lange die vorherrschende. Sie hielt sich zu Zeiten der Völkerwanderung, auch über das gesamte Mittelalter hinweg bis mindestens ins 17. Jahrhundert.
Der Don fließt von Norden beziehungsweise Nordosten ins Asowsche Meer, das kleine Nebenmeer des Schwarzen Meeres östlich der Halbinsel Krim. Alles östlich des Dons und des Schwarzen Meeres gehörte laut dieser Definition zu Asien, also auch der gesamte Kaukasus. Aber auch hier galt, zumindest bei den alten Griechen: Was nördlich des Dons oder des Kaspischen Meeres lag, interessierte nicht sonderlich.
Kaum bekannt, aber lange als Grenze definiert: Die Manytschniederung
Wer in der Schule gelernt hat, dass der Mont Blanc der höchste Berg Europas ist (und der Kaukasus also nicht zu Europa gehört), hat das letztlich Philipp Johann von Strahlenberg zu verdanken. Dieser Mann, geboren in Stralsund, das damals zu Schweden gehörte, war schwedischer Offizier, der im Großen Nordischen Krieg 1709 in russische Kriegsgefangenschaft geriet. Dort betrieb er geografische und anthropologische Studien, die er nach seiner Heimkehr in einem Buch zusammenfasste, das er 1730 veröffentlichte und das in vielen Ländern auf großes Interesse stieß.
Dabei definierte von Strahlenberg einerseits das Uralgebirge als östliche Grenze Europas. Und zwischen Asowschem und Kaspischem Meer war es nun die sogenannte Manytschniederung, die die Grenze bilden sollte, ein meist sumpfiges Gebiet, auf dem es vor langer Zeit mal einen Fluss gab, der Asowsches und Kaspisches Meer verband. Das russische Zarenhaus akzeptierte diese Kontinentalgrenze, nach der der gesamte Kaukasus zu Asien gehört, und auch im deutschsprachigen Raum setzte sie sich durch, zum Teil bis heute.
Wasserscheiden als "ewige" Grenzen
Während von Strahlenberg noch das ganze Uralgebirge mitsamt seinen Ausläufern zu Europa zählte und Asien erst etwas weiter östlich mit dem sibirischen Tiefland beginnen ließ, setzte sich in großen Teilen Europas nach der Aufklärung eine neue Antwort auf die Frage "Was sind Grenzen eines Kontinents" durch. Nun waren nicht mehr nur Meere und große Flüsse grenztauglich, sondern auch und vor allem Gebirge. Genauer gesagt: ihre Kammlinien. Oder noch genauer gesagt: der Verlauf ihrer Wasserscheiden.
Laut Sebastian Lentz vom Leibniz-Institut für Länderkunde hat diese Idee, dass man auf Pässe, Gipfel und Grate steigen muss, um natürliche Grenzen festzulegen, im Europa des 18. bis 20. Jahrhunderts zahlreiche Anhänger gefunden. "Die Zeit der Nationalstaatenbildung hat versucht, sich in hohem Maße an solchen, sagen wir, eher einfach gezogenen Grenzlinien zu orientieren."
Die Idee hinter der Idee, Europa von Asien durch Gebirge zu trennen, ist verständlich: Ländergrenzen können sich ändern, bewohnende Menschen und Völker können sich ändern, Berge werden aber auf absehbare Zeit immer Berge bleiben. Für das Uralgebirge bedeutet das nach dieser Definition: Die Seite, wo das Wasser nach Osten abfließt, gehört zu Asien, die andere zu Europa. Und ähnlich sieht es im Kaukasus aus, nur mit anderen Himmelsrichtungen. Wo Wasser tendenziell nach Norden abfließt, gehört der Kaukasus zu Europa, wo es nach Süden abfließt, ist Asien. Zumindest, wenn man der Theorie der Wasserscheiden als Grenzen folgt. Und das tun heute viele, wahrscheinlich ist es derzeit sogar die Mehrheitsmeinung.
Was sagen die Bergsteiger dazu?
Auch für Bergsteiger ist es nicht ganz unwichtig, ob der Elbrus zu Europa gehört oder nicht. Denn da gibt es die beinahe schon mythischen "Seven Summits" (englisch für "sieben Gipfel"). Das sind die höchsten Berge der sieben Kontinente (inklusive Antarktis). Sie alle zu besteigen, ist für manche Bergsteiger ein wichtiges Ziel.
Aber müssen sie da nun auf den Mont Blanc oder auf den Elbrus, um Europa abzuhaken? Auch in Bergsteigerkreisen folgt man mehrheitlich der Wasserscheiden-Grenzdefinition. Der Elbrus gilt bei den meisten als höchster Berg Europas. Der Mont Blanc liegt dann plötzlich nicht mal mehr in den europäischen Top Ten, denn im nördlichen Teil des Großen Kaukasus überragen ihn viele, allein acht sind über 5.000 Meter hoch.
Machen wir die Verwirrung komplett!
Bislang haben wir über vier historische Vorschläge gesprochen, wo Europa zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer aufhört. Das sind aber nicht die einzigen vier, die es jemals gab. Es gab noch mehrere andere. Auch Europa über den Kaukasus hinaus nach Süden auszudehnen und Georgien, Armenien und Aserbaidschan noch zu Europa zu zählen, ist zumindest gesellschaftlich durchaus recht verbreitet.
Und da sind wir wieder bei dem "gesellschaftlichen Konstrukt" und dem "ständigen neuen Aushandeln" vom Beginn dieses Artikels. Politische Organisationen wie der Europarat, wo Georgien, Armenien, Aserbaidschan und auch die Türkei vertreten sind, oder auch Sportverbände zeigen das immer wieder.
Den noch heute gültigen Europarekord im Weitsprung der Männer (8,86 Meter) stellte vor 36 Jahren ein Armenier in Armenien auf. Robert Emmijan war damals natürlich noch Bürger der Sowjetunion. Aber auch heute wäre er noch beziehungsweise wieder "Sport-Europäer", denn Armenien ist wie Aserbaidschan, Georgien, die Türkei oder Israel Mitglied der größten europäischen Sportverbände.
Kirgisische, usbekische, turkmenische und tadschikische Sportler waren dagegen nur bis zum Ende der Sowjetunion "Sport-Europäer", seither sind sie Asiaten. Und noch verwirrender ist es bei den Kasachen. Stellen Sie sich vor, Sie sind Sportfan in Kasachstan. Ihre Fußballer können Sie dann (sportliche Qualifikation vorausgesetzt) bei der Europameisterschaft anfeuern, ihre Leichtathleten und Radsportler aber bei den Asien-Spielen. Anderer Dachverband, andere Kontinentalgrenze, so ist das eben.
Millionär wird man so wahrscheinlich nicht
Wenn Sie mal in eine Quizshow eingeladen und gefragt werden, was der höchste Berg Europas ist, dann antworten Sie bitte weder einfach "Mont Blanc", noch "Elbrus", denn beides ist genauso richtig wie falsch. Sagen Sie "Es kommt darauf an, ob man den (Nord-)Kaukasus dazuzählt" und dass es darüber keine Einigkeit auf der Welt gibt.
Wenn Sie dann noch mehr Redezeit und keine Angst haben, den Showmaster zu nerven, können Sie auch darüber philosophieren, dass so eine willkürliche Grenzziehung immer nur der Versuch ist, eine komplexe Welt zu vereinfachen und nicht nur geografische, sondern auch kulturelle Spaltungen vorzunehmen, nach dem Motto "ihr gehört noch dazu, ihr aber nicht mehr".
Sie können sogar den Direktor des Leibniz-Instituts für Länderkunde zitieren, der da sagte: "Ich glaube, es ist ein falsches Verständnis, uns als Wissenschaftler zu befragen. Wir würden es nicht als die Aufgabe sehen, eine endgültige Entscheidung zu treffen, sondern darauf verweisen, dass das gesellschaftspolitische Entscheidungen sind."
Und dann stehen Sie auf und gehen einfach. Die Welt wird Sie feiern. Denn Sie haben recht. Wenn auch kein Geld .