Citizen SciencePflanzenbestimmung per App? Flora Incognita erkennt jetzt sogar den Klimawandel!
Draufhalten, Foto machen, Pflanze erkennen: Die Thüringer App Flora Incognita zählt zu den Pionieren der digitalen Pflanzenbestimmung. Vor zehn Jahren startete die Entwicklung, mehrere Millionen Mal wurde die App installiert und erkennt inzwischen Zehntausende Arten. Aber die Technologie hat noch mehr Potenzial als die botanische Neugierde ihrer User zu befriedigen. Sagen wir es so: Die Daten sind für die Wissenschaft Gold wert.
- Mit der Thüringer App Flora Incognita können inzwischen 32.000 Pflanzenarten automatisch erkannt werden
- Die Daten taugen aber auch zu bürgerwissenschaftlichen Zwecken
- Perspektivisch können sie sogar helfen, örtliche Muster des Klimawandels zu erkennen
Gewöhnlicher Hornklee. Scharfer Hahnenfuß. Echter Nelkenwurz. Die hatten dann also auf einmal triviale Namen, die ganz trivialen Gewächse am Wegesrand, denen sonst für gewöhnlich meistens nur Hundeschnauzen und Sneaker-Sohlen Aufmerksamkeit schenken. "Auf meinen Spaziergängen sehe ich öfters dieses viele Gelb", sagt Karin Mora. "Und dann fängt man an zu realisieren, dass es nicht nur eine Spezies ist, sondern zehn unterschiedliche Spezies." Karin Mora von der Uni Leipzig ist Mathematikerin – eine, die ganz offensichtlich einen Hang zur Biologie entwickelt hat.
Nicht ganz unschuldig an dieser interdisziplinären Entwicklung ist Flora Incognita, Pionier-App in Sachen Pflanzenerkennung, gemacht in Deutschlands grüner Mitte. Die Anwendung hat aber nicht nur Karin Moras Privatleben bereichert, und ihr einen Zugang zum Scharfen Hahnenfuß eröffnet, sondern auch ihr Berufsleben. In ihrer Daten-Forschung versucht sie derzeit, noch mehr aus der App rauszuholen.
Pflanzenbestimmung mit Flora Incognita: Es geht um gewöhnliche, nicht exotische Arten
Flora Incognita – die "unbekannte Pflanzenwelt" – war eigentlich nur als Handwerkszeug gedacht, die ganz normale Natur im persönlichen Umfeld besser zu verstehen. Das sagt Jana Wäldchen vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena – neben der TU Ilmenau verantwortlich für Flora Incognita. Auf dieses "ganz normal" legt Jana Wäldchen großen Wert. Ihr ging es von Anfang an nicht darum, seltene oder exotische Arten aufzuspüren. Sondern: "Ich wollte, als wir damals angefangen haben, ein Tool entwickeln, dass die Leute Pflanzen Namen geben können, die sie auf dem täglichen Weg zur Arbeit oder mit der Familie auf Wanderung am Wegesrand treffen."
Und das hat geklappt: Zu den ersten Hürden zählte es, den unerwartet hohen Ansturm auf die Bestimmungs-Server an Wochenenden und Feiertagen zu bewältigen. "Es gab sehr, sehr viele Anfragen pro Sekunde bei den Servern, sodass die dann auch oft mal schlapp gemacht haben und dann halt keine Bestimmung mehr möglich war oder dass es auch sehr lange gedauert hat." So ist das eben, wenn an Wandertagen plötzlich alle durchs Handy schauen. Inzwischen läuft alles stabil, mehr als 600.000 Bestimmungen pro Tag sind kein Problem mehr. Und nicht nur das – auch der Bestimmungshorizont der App hat sich in den vergangenen Jahren deutlich erweitert: "2018 konnten wir ungefähr 2.000 Arten automatisch erkennen, das war unser Start, und jetzt sind wir bei 32.000 Arten, die wir in der App haben", sagt Jana Wälchen.
Bald sollen noch mehr dazu kommen. Man möchte sagen: Ein ganzes Universum an Klassen, Familien, Gattungen, Arten – nämlich Moose und Flechten. "Das ist noch mal eine ganz andere Hausnummer", so Wäldchen. Denn unter denen lassen sich teilweise mit bloßem Auge keine Unterschiede feststellen: "Vieles funktioniert hier nur mit Lupe oder auch Mikroskop und da müssen wir dann wirklich auch erstmal schauen, wie das mit so einer automatischen Erkennung im Bild funktionieren wird."
Pflanzenbestimmung: Name der Pflanze ist nett, Standort und Zeitpunkt Gold wert
Bei zumindest einem Teil der 32.000 Arten, die Flora Incognita jetzt schon erkennen kann, ist bekannt, wann und wo Menschen sie gesehen haben und in welchem Zustand sie sich befinden. Sagen wir es mal so: Für die Forschung sind diese Informationen Gold wert.
"Zum einen können wir invasive Arten kartieren", erklärt Wäldchen. "Diese Informationen sind auch schon an Landesämter weitergegeben worden, wie zum Beispiel das Thüringer Umweltministerium." Oder es lässt sich herausfinden, wo und warum sich Kastanienblätter so schnell braun färben. Dazu gibt es ein eigenes bürgerwissenschaftliches Forschungsprojekt – auch Citizen Science genannt –, das den gemütlichen Namen Kastaniendetektive trägt. Mit der passend kastanienbraun-karierten Kombination aus Mantel und Sherlock-Mütze durch die Wälder zu streifen, weckt nicht nur Erinnerungen an Kindheitstage, sondern hat einen direkten Nutzen für die Forschung.
Es läuft gut für Flora Incognita, allein die iOS-Variante kommt bei 12.500 Bewertungen auf 4,8 von fünf Sternen, die Android-Version (über 38.000 Bewertungen, 5 Mio. Downloads) sogar auf 4,9. Die Macherinnen und Macher der unentgeltlichen und werbefreien App könnten sich jetzt also auf die Schulter klopfen und nach zehn Jahren Viere grade sein lassen, schon tut sich die nächste Idee auf, wie kürzlich im Fachblatt Methods in Ecology and Evolution zu lesen war. Bei dieser Idee kommt die Forschung von Mathematikerin Karin Mora ins Spiel. Die zeigt: Daten der Nutzerinnen und Nutzer eignen sich auch, um zu ermitteln, wann wo welche Pflanzen austreiben oder blühen. Mora und ein Team von der Uni Leipzig und dem mitteldeutschen Biodiversitätsforschungszentrum iDiv haben deshalb einen Algorithmus entwickelt, der aus der Flut an Nutzungsdaten Zusammenhänge erkennen kann.
Wie macht man wilde Citizen Science-Daten zu genormten Datensätzen?
Und das ist gar nicht so einfach, wie es klingt. "Forschung bedeutet, 99 Prozent der Zeit irgendwie festzustecken und zu überlegen, wie ich dieses Problem jetzt löse", gibt Karin Mora zu bekennen. Im Falle der Datenauswertung ist zum Beispiel ein Problem, dass die Informationen aus der Bevölkerung sehr unregelmäßig eintrudeln: "Zum einen dieser Wochenendeffekt, wo eben die Menschen mehr Spazierengehen und dann da ihre Beobachtung machen." Oder generell die ungleichmäßige Verteilung in der Fläche, je nach Bevölkerungsdichte halt. Der Algorithmus kann diese Unregelmäßigkeiten berücksichtigen und so in Zukunft anhand der Pflanzendaten zeigen, wie sich der Klimawandel in einzelnen Regionen bemerkbar macht. Sprich: Wo bestimmte Arten früher blühen und auch der Frühling früher beginnt.
Pflanzenbestimmung per App
Neben Flora Incognita (Android, iOS) gibt es inzwischen zahlreiche Apps, die Pflanzen maschinell erkennen können, wie zum Beispiel das französische PlantNet – ebenfalls Teil eines Citizen Science-Projekts – oder das kommerzielle PictureThis. Teilweise ist eine einfache Erkennung auch bereits im Betriebssystem des Smartphones integriert.
Grundsätzlich gibt es bereits die Möglichkeit, solche Dinge durch Satellitendaten auszuwerten. Der Blick von unten hat aber seine Vorteile, nicht nur, weil er präziser ist, sagt Karin Mora: "Wenn sich der Satellit über einem Wald befindet, dann sehen wir nur, was in den Waldkronen passiert, aber nicht am Boden des Waldes."
Bis es die ersten Auswertungen solcher phänologischen Beobachtungen gibt, dauert es noch etwas. In einem nächsten Schritt sollen weitere Variablen einfließen, wie Wetter und Sonnenstrahlung. Ein Mammutprojekt. Die App hilft im Übrigen auch da – beim Runterkommen: "Wenn man zum Beispiel in Leipzig auf den Brachländern spazieren geht, entlang der Zuggleise." Pflanzenbestimmung – für Karin Mora heißt das nicht nur, Datensätze zu verbinden. Sondern auch sich selbst – wieder mit der Natur. Und dem scharfen Hahnenfuß.
Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | 22. Juli 2024 | 10:22 Uhr
Kommentare
{{text}}