Neurophilosophie Schmerz und Leid in der Evolution

24. Juni 2018, 09:00 Uhr

Es gibt Dinge, die sind einfach da. Mit denen hat man sich abgefunden. Schmerzen beispielsweise - und damit verbundene Gefühle wie Leiden. Aber wie alles in der Evolution hat die Natur den Schmerz irgendwann erfunden und dann später auch mit Gefühlen verknüpft. Wissenschaftler interessiert nun, was ist notwendig, nicht nur um körperlichen Schmerz zu empfinden, sondern um auch gleichzeitig entsprechend zu fühlen? Verbunden damit ist immer auch die Frage: Fühlen Tiere ähnlich wie wir Menschen?

Junior-Professor Dr. Sascha Fink ist Neurophlilosoph an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg. Er beschäftigt sich damit, wie der Aufbau, die Struktur unseres Gehirns unser Denken und unsere Gefühle bestimmt. Er sagt Schmerzsensoren gab es schon ganz früh in der Entstehungsgeschichte des Lebens: "Also das findet man schon bei den ersten mehrzelligen Organismen - Quallen, Anemonen. Aber wann Schmerz begonnen hat, das ist wahrscheinlich etwas komplizierter."

Vorläufer-Modell des Schmerzempfindens

Bei Anemonen sind Umweltsensoren direkt mit Muskeln verbunden, die bei Hitze und Übersäuerung reagieren und die Anemone zusammenziehen. Wahrscheinlich ist das so eine Art Vorläufer-Modell des Schmerzempfindens, sagt Sascha Fink. "Das Nervensystem von See-Anemonen ist super diffus. Das heißt also, es gibt gar nicht mal ein zusammenhängendes Nervensystem, sondern einzelne Neuronen, die irgendwie wild in dieser See-Anemone verteilt sind (...) nicht so wie bei uns ein zentrales Nervensystem."

Wahrscheinlich ist ein zentrales Nervensystem die Struktur, die Schmerzempfinden - so wie wir es kennen - möglich macht. Schmerzen empfinden sei ein hochkomplexer Prozess, so Fink: "Ganz charakteristisch ist, dass das immer integriert ist mit anderen Arten von Informationen, die Ihr Körper bekommt. Beispielsweise heißer Schmerz fühlt sich anders an als kalter Schmerz. Sie merken, ob es ein Druckschmerz ist oder ein stechender Schmerz. Sie wissen, wo der Schmerz an ihrem Körper ist."

Schmerz gut fürs Überleben

Zu spüren, wo Gefahr für den eigenen Körper droht und in welcher Form, stellt einen enormen evolutionären Vorteil dar. Schmerz zu spüren, war und ist gut fürs Überleben. Schmerz zu spüren, ist aber nicht automatisch mit Leiden oder Leidensfähigkeit verbunden. Das zu verbinden, diesen Trick ließ sich die Natur etwas später einfallen. Es machte einen großen Unterschied, ob ein Organismus einfach nur zurück zuckte oder den Schmerz einer gewissen Bewertung unterzog: "Leiden oder die emotionale Evaluation von Schmerzen spielt eine ganz große Rolle, wie wir beispielsweise bereit sind, Schmerzen auszuhalten. Der Affe, der bereit war, in den Brombeerbusch reinzugreifen trotz der Dornen, war derjenige, der quasi uns das Leiden beschert hat, weil wir die Nachfahren von ihm sind. Er hatte ein bisschen mehr Ressourcen zur Verfügung als der Affe, der reflexartig die Hand zurückgezogen hat."

Diese Kombination von Schmerzempfinden und einer ganzen Palette von Gefühlen, die damit einhergehen können, ist wahrscheinlich keine Einbahnstraße. Gefühle wie Liebeskummer, Hass, Neid, Eifersucht können auch körperliche Schmerzen verursachen. "Es ist nicht ausgeschlossen, wenn das Leidenszentrum aktiv wird, dass es rückkoppelt auf das Schmerzzentrum."

Leidens- und Schmerzmechanismus

Diese Erkenntnisse führen konsequenter Weise zu der Frage: Sind wir die einzige Spezies auf diesem Planeten mit diesem Leidens- und Schmerzmechanismus? Mediziner, Biologen, Ethiker, Philosophen und Landwirte streiten sich darüber. Neurophilosoph Sascha Fink sagt ganz klar: nein. Leiden ist nicht typisch Mensch: "Ich denke, dass die Evolutionsgeschichte von unserer Art Leiden wahrscheinlich weit zurückreicht. Dass zumindest alle Säugetiere in einem ähnlichen Maß leidensfähig sind. Wenn wir uns anschauen, welche Formen von Leiden bei anderen Tieren möglich sind, ist wahrscheinlich die wichtigste Sache, zu fragen, als was können die sich verstehen? Die meisten haben eine Repräsentation von ihrem Körper. Das heißt, alle werden körperlich leiden können. Manche haben auch eine Repräsentation von ihrer Stellung in der Sozialhierarchie. Das heißt, sie werden unter sozialen Umständen leiden können. Fast alle Tiere, die so etwas haben wie Brutpflege, haben natürlich auch eine Repräsentation von ihren eigenen Kindern."

Auch Tiere leiden

Neurophilosoph Sascha Fink betrachtet aus dieser wissenschaftlichen Perspektive vor allem unseren Umgang mit Tieren in der Massentierhaltung. Selbst wenn wir Tieren keinen körperlichen Schmerz zufügen, leiden sie, ist sich Fink sicher. Er weiß aber, dass viele anderer Meinung sind. "Der Vorwurf, der dann immer kommt, ist, dass wir Tiere vermenschlichen. Aber ich hab das ehrlicherweise nie verstanden, was da genau der Vorwurf ist. Weil die Gegenbewegung ist eigentlich die viel korrektere: Nämlich den Menschen zu vertierlichen. Wenn wir uns verstehen als Trockennasenaffen mit unserem ganzen biologischen Erbe, dann muss es für dieses Verhalten auch biologische Vorläufer gegeben haben."

Krebse, Kraken, Reptilien, Fische, Vögel und natürlich alle Säugetiere zeigen Verhaltensweisen - so Fink - die nahelegen, dass auch sie nicht nur Schmerzen empfinden, sondern auch zu leiden imstande sind: "Vermutlich ist dies eine Welt voller Leiden. Ob wir das wollen oder nicht. Das heißt, ich würde fast sagen, das geht viel weiter zurück als es uns lieb ist."

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL Radio | 24. Juni 2018 | 10:50 Uhr