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LandwirtschaftStudie: Grenzwerte für Pestizide in vielen deutschen Bächen überschritten

19. Juni 2021, 05:00 Uhr

Pestizide belasten die Gewässer um landwirtschaftliche Felder so stark, dass die Grenzwerte in 80 Prozent der Fälle überschritten sind. Leipziger Forscher des Umweltforschungszentrums (UFZ) fordern, die Zulassung von Pestiziden radikal zu reformieren.

Kleine Flüsse und Bäche in der Nähe landwirtschaftlicher Felder sind überdurchschnittlich stark mit Pestiziden belastet. In über 80 Prozent der Gewässer werden die Grenzwerte überschritten. Das ergab eine bundesweite Studie unter der Leitung des Leipziger Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ). "Der Verlust der Artenvielfalt kann nur gestoppt werden, wenn die Umweltrisikobewertung der Pestizide radikal reformiert wird", erklären die Forscher in der Fachzeitschrift Water Research. Die staatlichen Grenzwerte für Pestizide seien viel zu hoch angesetzt, und selbst diese hohen Werte würden in der Mehrheit der Gewässer noch überschritten.

100 Messstellen in zwölf Bundesländern

Zwei Jahre lang haben die Forscherinnen und Forscher die Pestizidbelastung an mehr als 100 Messstellen an Bächen untersucht, die durch überwiegend landwirtschaftlich genutzte Tieflandregionen in zwölf Bundesländern fließen. Das Ergebnis ist alarmierend: In der überwiegenden Mehrzahl der Gewässer wurden "erhebliche Überschreitungen" der Grenzwerte festgestellt. In insgesamt 81 Prozent der Bäche und Flüsse analysierten die Forschenden einen überschrittenen RAK-Wert. Der RAK-Wert zeigt die behördlich zugelassene Konzentration eines Pflanzenschutzmittels an.

Grenzwerte für zehn Pestizide gleichzeitig überschritten

Doch damit nicht genug. In 18 Prozent der Bäche wiesen sie sogar für mehr als zehn Pestizide gleichzeitig Überschreitungen der Grenzwerte nach – teilweise in gravierender Höhe. Bäche und kleine Flüsse in Agrarregionen sind also gleich mit mehreren Pestiziden oberhalb der Grenzwerte belastet.

Wir haben bundesweit eine deutlich höhere Pestizidbelastung in den Kleingewässern nachgewiesen als wir das ursprünglich erwartet haben.

Professor Matthias Liess | Ökotoxikologe am UFZ und Koordinator des Projekts Kleingewässermonitoring

Thiacloprid: Grenzwert um mehr als das Hundertfache überschritten

Laut der Studie überschritt zum Beispiel das Insektizid Thiacloprid den RAK-Wert in drei Gewässern um mehr als das Hundertfache. Thiacloprid gehört zur Klasse der Neonicotinoide, die als selektive Nervengifte auf die Nervenzellen von Insekten wirken.

ThiaclopridLaut des Bundesinformationszentrums Landwirtschaft hat Thiacloprid im Mai 2020 seine Zulassung verloren. Seit 2018 sind zudem die Neonicotinoide Clothianidin, Thiamethoxam und Imidacloprid in der Landwirtschaft EU-weit verboten. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hatte zuvor die Schädlichkeit der Stoffe für Wild- und Honigbienen bestätigt.

Auch andere Pestizide toppten die Grenzwerte extrem

Andere Insektizide wie Clothianidin, Methiocarb und Fipronil, aber auch Herbizide wie Terbuthylazin, Nicosulfuron und Lenacil toppten den Forschern zufolge den RAK-Wert um den Faktor zehn bis hundert in 27 Gewässern.

Pestizide wirken auf Tiere bereits in viel niedrigeren Dosen

Neben überschrittenen Grenzwerten stießen die Forschenden auf eine weitere brisante Erkenntnis. Mit ihren Daten wiesen sie nach, dass Pestizide auf wirbellose Wassertiere in viel niedrigeren Konzentrationen wirken, als bisher in der Pestizid-Zulassung angenommen.
"Für empfindliche Insektenarten ist die Pestizidkonzentration in kleinen Tieflandgewässern der wesentliche Faktor für ihr Überleben. Umweltprobleme wie Gewässerausbau, Sauerstoffmangel oder zu hoher Nährstoffgehalt spielen eine geringere Rolle", erklärt Forscher Liess. Empfindliche Insekten wie Köcherfliegen und Libellen benötigten beispielsweise etwa tausendfach niedrigere Grenzwerte, als es Schnecken und Würmer brauchen, um ihre Art zu erhalten. Erstmals sei ein Ranking der Umweltprobleme gelungen.

Aktuelle Zulassungspraxis unterschätzt hohe Empfindlichkeit der Arten

Die Forscher sind sich sicher: "In der derzeitigen Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln wird die Empfindlichkeit der Arten im Ökosystem unterschätzt", erklären sie. Bislang werde das Risiko nur auf Basis von Laborstudien, künstlichen Ökosystemen und Simulationsmodellen vorhergesagt. Die Ergebnisse aus dem Labor spiegelten aber laut Liess nicht die Realität wider. "Im Ökosystem wirken neben Pestiziden zahlreiche Stressoren auf die Organismen, so dass diese deutlich empfindsamer auf Pestizide reagieren", erklärte der Forscher. Natürliche Stressoren wie Räuberdruck oder die Konkurrenz der Arten würden nicht ausreichend berücksichtigt.

Diese offensichtlichen Probleme fallen aber nicht auf, da sowohl die Menge des Pestizideintrags als auch ihre Wirkung weder in Deutschland noch in anderen Staaten in der Umwelt validiert werden.

Professor Matthias Liess | Ökotoxikologe am UFZ und Koordinator des Projekts Kleingewässermonitoring

Proben müssen nach Regen entnommen werden

Zur Analyse der Schadstoffkonzentration sei es laut den Forschenden zudem unerlässlich, nach dem Regen sogenannte Ereignisproben zu nehmen. "Die Ereignisprobe liefert wesentlich realistischere Ergebnisse, da die Pestizide insbesondere bei Niederschlägen durch den aufkommenden Oberflächenabfluss vom Acker in die Gewässer eingetragen werden", sagt Matthias Liess. Die ereignisbezogenen Proben wiesen gegenüber den Schöpfproben eine zehnfach höhere Belastung auf. Um die Gewässerbelastung realistisch abzubilden, müssten Proben nach Regenfällen genommen werden. Nach der EU-Wasserrahmenrichtlinie sind lediglich Schöpfproben als Standard vorgesehen. Dabei nimmt jedoch nur ein automatisch gesteuerter Probenehmer Wasserproben aus dem Gewässer.

Forderung: Zulassungskriterien für Pestizide aktualisieren

Der Ökotoxikologe Liess fordert, die Zulassungskriterien für Pestizide zu aktualisieren. "Dass heute noch Pestizide eingesetzt werden, deren Zulassung viele Jahre zurückliegt und damit oft auf einer überholten Risikobewertung beruht, muss sich schnellstens ändern", erklärte Liess. Ein regelmäßiges behördliches Umweltmonitoring sei unerlässlich, wissenschaftliche Ergebnisse müssten zudem schneller in den Zulassungsprozess einfließen. "Nur so können wir die Artenvielfalt in unseren Gewässern erhalten und mit ihnen die Leistungen, die diese Lebensgemeinschaften für unsere Ökosysteme erbringen."

Originalpublikation

Matthias Liess, Liana Liebmann, Philipp Vormeier, Oliver Weisner, Rolf Altenburger, Dietrich Borchardt, Werner Brack, Antonis Chatzinotas, Beate Escher, Kaarina Foit, Roman Gunold, Sebastian Henz, Kristina L. Hitzfeld, Mechthild Schmitt-Jansen, Norbert Kamjunke, Oliver Kaske, Saskia Knillmann, Martin Krauss, Eberhard Küster, Moritz Link, Maren Luck, Monika Möder, Alexandra Müller, Albrecht Paschke, Ralf B. Schäfer, Anke Schneeweiss, Verena C. Schreiner, Tobias Schulze, Gerrit Schüürmann, Wolf von Tümpling, Markus Weitere, Jorn Wogram, Thorsten Reemtsma: Pesticides are the dominant stressors for vulnerable insects in lowland streams. Water Research (2021): https://doi.org/10.1016/j.watres.2021.117262

(kt)

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