Eine Hand hält ein Handy hoch, auf dem Display steht: "RKI Covid-19 Deutschland: 7-Tage-Inzidenz 249,1". Im Hintergrund ist eine Deutschlandkarte mit Infektionszahlen zu sehen.
Die 7-Tages-Inzidenz erreicht in Deutschland die bisher höchsten in der Pandemie festgestellten Werte. Bildrechte: IMAGO / Revierfoto

Wissenschaftsempfehlungen im Corona-Herbst Was hilft gegen die 4. Corona-Welle: Impfen, Boostern, klare Regeln

11. November 2021, 16:38 Uhr

Corona breitet sich wieder mit exponentieller Geschwindigkeit in Deutschland aus. Namhafte Wissenschaftler halten einen neuen Lockdown in dieser Phase jedoch für ungeeignet. Stattdessen seien Impfungen das wichtigste Mittel.

Am Donnerstagmorgen gab das Robert Koch-Institut bekannt, dass Deutschland zum ersten Mal in der Pandemie die Marke von 50.000 Neuinfektionen an einem Tag überschritten hat. Trotz einer Impfquote von über 67 Prozent verbreitet sich Sars-Coronavirus-2 – vor allem wegen der hochansteckenden Delta-Variante – wieder exponentiell. Der sogenannte R-Wert liegt aktuell bei 1,16, in den vergangenen sieben Tagen hat also jeder Infizierte im Schnitt 1,16 weitere Menschen angesteckt. Wie kann Deutschland dieses Wachstum stoppen und die Lage wieder in den Griff bekommen? Vier prominente Expertinnen und Experten für das Thema sind sich stellvertretend für viele Wissenschaftler einig: Der einzige Weg aus der Krise ist eine rasche Immunisierung.

Ein Prozent Impfquote pro Tag notwendig

Masken tragen und Abstand halten, seien zwar wirkungsvolle Mittel. Technologisch und epidemiologisch am fortschrittlichsten seien vor allem aber die Impfungen, sagt Epidemiologin Eva Grill bei einem Pressegespräch des deutschen Science Mediacenters. Zusammen mit ihrer Kollegin Viola Priesemann und weiteren Forschern hat Grill gerade ein Positionspapier herausgegeben, welche Strategien jetzt nachhaltig aus der Krise führen könnten. Und das sind vor allem Booster-Impfungen – zunächst für die besonders gefährdeten Älteren – und Erstimpfungen der bislang Ungeimpften, um die Impflücke zu schließen.

"Im vergangenen Sommer haben wir eine Quote von bis zu sieben Prozent Impfungen pro Woche geschafft. Unser Vorschlag ist: Diese Geschwindigkeit müssen wir jetzt sowohl mit Erstimpfungen als auch mit Boostern wieder erreichen", sagt Viola Priesemann. Einerseits könne nur so die Impflücke der Ungeimpften geschlossen werden. Andererseits sorge das Boostern dafür, dass besonders empfindliche Personen – also vor allem Ältere mit vielen Vorerkrankungen – wieder besser geschützt seien. Nur so lasse sich verhindern, dass die Intensivstationen der Krankenhäuser wieder den gesamten Winter über an ihrer Belastungsgrenze arbeiten müssten.

Die Empfehlung zur Booster-Impfung für alle über 18-Jährigen wird kommen

Für den Virologen Klaus Überla vom Universitätsklinikum Erlangen kommt die Situation nicht überraschend. "Das hat sich im September schon angedeutet, als wir trotz hoher Impfraten eine konstante Menge neuer Infektionen hatten", sagt der Mediziner, der auch Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko) ist. Jetzt sei man wieder in der exponentiellen Phase, in der die aktuell geltenden Maßnahmen und die vorhandene Impfquote nicht ausreichen, weil die Delta-Variante des Virus deutlich ansteckender ist.

"Wir haben wieder sehr viele Patientinnen und Patienten mit Covid-19 auf den Intensivstationen. Im Vergleich zum vergangenen Jahr sind diesmal auch viele etwas jüngere Personen darunter. Die bleiben länger dort, was in Kombination mit dem Personalmangel die Engpässe verschärft", schildert der Arzt die dramatische Lage in den Krankenhäusern. Ein Großteil der Covid-Intensivpatienten sei aber über 60 Jahre alt, deswegen habe die Stiko für diese Gruppe als erstes die Booster-Impfung empfohlen. "Wenn wir genug Impfkapazitäten haben, dann wäre das Boostern für alle über 18-Jährigen sinnvoll", sagt er. Die allgemeine Empfehlung zur Auffrischung werde auch kommen, darüber habe die Stiko die Politik bereits informiert.

Sportvereine und Ärzte sollten für die Impfung werben – nicht die Bundesregierung

Fehlende Kapazitäten sind allerdings nur eine Seite des Problems. Die andere, schwerwiegende ist die fehlende Impfbereitschaft. "Wer geimpft werden will, ist geimpft. Die Hälfte der jetzt noch Ungeimpften ist nicht impfbereit", fasst die Kommunikationsforscherin Cornelia Betsch von der Universität Erfurt die Lage zusammen. Mit Kollegen führt sie regelmäßig das Covid-19 Snapshot Monitoring durch, bei dem repräsentativ ausgewählte Menschen zu ihren Einstellungen in Bezug auf die Pandemie und die Maßnahmen dagegen befragt wird.

Welche Maßnahmen gegen die weit verbreitete Impfskepsis helfen? Betsch hofft, dass vor allem Ärzte aber auch Sportvereine und andere Institutionen, die ein hohes Vertrauen vor Ort genießen, die Menschen ansprechen. Wenn auf einem Werbeplakat für die Impfung beim Absender "Ihre Bundesregierung" stehe und viele Menschen der Regierung nicht vertrauten, dann sei das wenig wirkungsvoll, so die Wissenschaftlerin.

Geimpfte mit Janssen müssen dringend boostern

Auch in Bezug auf die Auffrischungen seien neue Anstrengungen nötig. "Unter den Geimpften würden drei Viertel die Booster-Impfung nehmen. Das sind also auch nicht alle", sagt Betsch. Bei vielen seien die sechs Monate noch nicht abgelaufen. Es gebe aber auch Zweifel am Sinn der Auffrischung und an der Sicherheit der Impfung. Viele hätten auch die Impfreaktionen erlebt und sagten sich jetzt: "Das will ich nicht noch einmal haben." Daher regt Betsch an, dass die Stiko die Booster-Impfungsempfehlung für alle Erwachsenen schon jetzt ausspreche. Denn: solange es keine Empfehlung gebe, glaubten viele, die Stiko rate von der Auffrischung ab.

Eine fehlende Empfehlung durch die Stiko ist auch eine Kommunikationshandlung.

Prof. Cornelia Betsch, Universität Erfurt

Umgekehrt könne die Stiko mit dem Rat zur Auffrischung auch Druck auf die Politik machen, dass die nötigen Impfkapazitäten, etwa durch eine Wiedereröffnung der Impfzentren, wieder geschaffen würden. Impfbusse, die den Impfstoff von Janssen (Johnson & Johnson) bei Sonderaktionen verteilten, seien jetzt aber nicht mehr ausreichend. Denn der Einmal-Impfstoff müsse wahrscheinlich am dringendsten aufgefrischt werden. "Gerade diese Janssen-Geimpften brauchen jetzt dringend eine Booster-Impfung", so Betsch

Impf-Rhythmus vielleicht wie bei der Grippe jedes Jahr im Herbst

Viele fragen sich allerdings: Was bringt eine Auffrischung und wie lange hält sie dann? Studien dazu hätten ermutigende Erkenntnisse gebracht, sagt Stiko-Mitglied Klaus Überla. Zwar gebe es logischerweise noch keine Daten aus der Praxis, da die ersten Booster-Impfungen erst jetzt durchgeführt werden. Aber: "Die Immundaten aus dem Labor zeigen höhere Werte, als nach der zweiten Impfung." Epidemiologin Eva Grill ist daher optimistisch.

Es ist vielleicht noch gar nicht so im Bewusstsein, aber die dritte Impfung schützt besser als die zweite. Daher hält die Immunität wahrscheinlich auch länger.

Prof. Eva Grill, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die vier Forscherinnen und Forscher sind sich einig, dass das Zertifikat der vollständigen Impfung daher nicht unbegrenzt gelten solle. Die Frage sei, wie sich die epidemische Lage auf lange Sicht entwickle. Überla geht davon aus, dass Frühling und Sommer 2022 wieder relativ ruhig werden und die nächste Coronawelle dann erst wieder in einem Jahr kommt. "Sinnvoll wäre daher eine jährliche Auffrischungsimpfung vor Beginn der Saison, nicht erst im März", sagt er. Die Covid-Impfung würde dann in einem ähnlichen Rhythmus erfolgen wie die Impfung gegen Influenza.

Corona-Regeln vereinheitlichen und kontrollieren

Was aber könnte helfen, die akute Infektionslage zu entspannen? Wenn es nochmal einen Lockdown geben muss, dann empfiehlt Physikerin Viola Priesemann diesen lange im Voraus anzukündigen und dann zwei Wochen lang so strikt wie möglich zu gestalten. Am besten während der Schulferien, am besten, während so viele Arbeitsstätten wie möglich geschlossen sind. "Das könnte die Inzidenz um den Faktor vier reduzieren."

Sie rechnet ansonsten mit mehreren hunderttausend Toten. "Es gibt immer noch etwa vier Mal so viele Angehörige der Hochrisikogruppe, wie bereits Menschen verstorben sind."

Cornelia Betsch wiederum hält weitere, neue Maßnahmen zur Eindämmung nicht unbedingt für notwendig. "Ein Drittel der Geimpften mussten den Impfausweis noch nie vorzeigen", schildert sie eine Erfahrung aus den Befragungen ihres Forscherteams. Es gehe also vor allem darum, bestehende Regeln wirklich durchzusetzen und am besten auch deutschlandweit zu vereinheitlichen, dann könnten mehr Menschen den Maßnahmen zustimmen und würden sie auch ernster nehmen.

13 Kommentare

DermbacherIn am 19.11.2021

@MDR WISSEN ONLINE
Ganz zu Beginn der Pandemie sind die dort den falschen Weg gegangen. Haben es erkannt, zugegeben und gegengesteuert. Wenn Sie sich die Kurven mit den Todeszahlen anschauen und übereinanderlegen, dass schneiden wir schlechter ab. Und ich bitte Sie, Inzidenz 55! Schauen sie sich mal die Inzidenzen von den Ländern mit mehr hoher Impfquote an, da kommt keines hin.

MDR-Team am 19.11.2021

Hallo @DermbacherIn,
lassen sich schwedische Verhältnisse auf Deutschland übertragen?
Nur bedingt. Denn die Menschen leben unter anderen Verhältnissen: Das Sozialleben der Schweden wird von Menschen, die das Land kennen eher so beschreiben, dass zahlreiche soziale Kontakte keine so große Rolle spielen. Hinzu kommt, dass das Land mit gut zehn Millionen Einwohnern nur sehr dünn besiedelt ist. Und selbst in einer Großstadt wie Stockholm leben viele Menschen allein: Schweden hat mit 50%t den höchsten Anteil an Single-Haushalten in der Europäischen Union.

Schweden hat "nur" 10.160.159 Einwohner*innen und mit 1.187.607 Infektionen eine Infektionsrate von 11,69%.
Die Letalitätsrate liegt bei 1,27%.

https://www.corona-in-zahlen.de/weltweit/schweden/

Deutschland hat 83.166.711 Einwohner*innen und mit 5.248.291 Infektionen eine Infektionsrate von 6,31%.
Die Letalitätsrate liegt bei 1,88%.

https://www.corona-in-zahlen.de/weltweit/deutschland/

Liebe Grüße

DermbacherIn am 19.11.2021

Zum Beispiel Schweden hat eine Inzidenz von 55! Mit fast gleicher Impfquote in der Gesamtbevölkerung wie wir (wir 67,85 %, dort 68,77 %), es sind also offensichtlich nicht nur die Ungeimpften an allem schuld!
Merken Sie was? Man hätte sich auch bei uns auf die Alten und Risikogruppen konzentrieren können anstatt die ganze Energie in den Dauerkampf mit Jungen und Gesunden zu legen. Und Schweden hat völlig ohne Druck und Schließungen gearbeitet. Und hat keine gespaltene Gesellschaft.
In Deutschland haben wir unteranderem Markus Söder, der den schwedischen Weg im Sommer in seiner allumfassenden Weisheit als gescheitert bezeichnet hat. Und auch jetzt Jugendliche vom normalen Leben ausgrenzt, damit sie sich nur ja impfen lassen.