Nach dem Brand von Notre Dame Warum wir bei Katastrophen nicht weggucken können

16. April 2019, 14:32 Uhr

Ob bei großen Katastrophen oder kleinen - Bilder der brennenden Kathedrale von Notre Dame, Aufnahmen der qualmenden, einstürzenden Zwillingstürme des World Trade-Centers, oder beim Autounfall auf der Straße: Der Effekt ähnelt sich - wir starren hin wie gebannt. Warum eigentlich?

Es ist eine perfide Faszination, die von Katastrophen ausgeht und vor der niemand gefeit ist: Wir müssen einfach hingucken, ob es nun der Unfall auf der Autobahn ist, die Kirche, die brennt, oder Menschen, die bei Überschwemmungen hilflos auf Hausdächern hocken: Hinter dem gebannten Anstarren von Katastrophen steckt mehr als pure Sensationslust. Traumaforscherin Dr. Claudia Gärtner, die in der Theodor Fliedner Stiftung u.a. an Therapien für Traumfolgen arbeitet, erklärt im Gespräch mit MDR Wissen, was bei solchen Katastrophen in unserem Hirn abläuft: Sie sagt, wir müssen Bilder verarbeiten, die starke Emotionen auslösen.

Warum diese Kathedrale so stark berührt

Wie erklärt sich das im Fall der brennenden Kathedrale Notre Dame? Gärtner begründet das mit der starken Symbolkraft dieser Kirche, die einerseits für die europäische Geschichte und Identität steht. Und mit der andererseits auch viele private Erinnerungen verknüpft sein können. Und dafür muss man kein Franzose sein oder aus Paris - dank Victor Hugos "Glöckner von Notre Dame" und den zahlreichen Adaptionen seines Romans in Märchen und Filmen ist die Kathedrale selbst jungen Menschen ein Begriff, unabhängig davon, ob sie den Bau jemals besucht haben oder nicht.

Mit dem Feuer geht ein zweiter Emotions-Aspekt einher: Ein Brand bedeutet der Traumatologin zufolge immer auch einen massiven Kontrollverlust, gerade für die Franzosen, die am Ufer der Seine standen und tatenlos zusehen mussten, wie ihr Wahrzeichen verbrennt. Und das bedeutet: Diese Reize überfluten das Gehirn. Es versucht, diese Emotionen logisch zu verarbeiten. Das geschieht im Großhirn und das kommt unter Umständen nicht hinterher. Also hält man inne, starrt die Bilder an, um die eigenen Emotionen und Hilflosigkeit zu verarbeiten, und um letztlich wieder die Kontrolle zurückzugewinnen.

Die Faszination der brennenden Kathedrale - ist das Anstarren eine Form der Traumabewältigung?

Das verneint Claudia Gärtner. Zu einem Trauma zählt in der Regel die Bedrohung um Leib und Leben - das sei beim Brand von Notre-Dame nicht der Fall. Beim Terroranschlag 9/11 zum Beispiel war das anders. Da haben wir uns auch stundenlang die Bilder angeschaut, auf denen aber zu sehen war, dass Menschen ums Leben kommen. Das kann tatsächlich traumatisieren.

Die Kathedrale Notre Dame in Paris brennt
Bildrechte: imago images/Le Pictorium

Dieses Thema im Programm: MDR aktuell | Radio | 16. April 2019 | 12:50 Uhr