Drei Haselnüsse für Aschenbrödel
Das Aschenbrödel spricht mit ihrer Eule Rosalie, die ihr ohne Worte Zuversicht gibt. In Märchen kommunizieren auch Tiere und Sachen, Feen und Phantasiegestalten. Märchen bedienen sich der gleichen Denkmodelle wie Kinder. Bildrechte: WDR/degeto/dpa

Psychologie Warum faszinieren uns Märchen?

21. Dezember 2022, 17:11 Uhr

Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, Hänsel und Gretel, Frau Holle: Die Weihnachtszeit ist für Kinder und viele Erwachsene Märchenzeit. Worin besteht der ungebrochene Zauber für längst bekannte Geschichten?

Märchen prägen die Vorstellungswelt, den moralischen Kompass, die Sprache und das Gedächtnis von Kindern. Damit können sie zur seelischen Gesundheit von Kindern beitragen, erklärt Johannes Wilkes, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie -psychotherapie in Erlangen in einem Aufsatz. Demnach fungieren Märchenfiguren als Projektion sowie die Märchenwelt als Phantasiemodell, in denen nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und Dinge eine Seele besitzen und miteinander kommunizieren.

Kinder erkennen sich in Märchen wieder

"Literarische Figuren werden für uns interessant, wenn sie uns nahe sind, wenn wir in der Lebenssituation des oder der Handelnden Parallelen zur eigenen Lebenssituation erkennen. Wenn die Aufgaben und Probleme, vor die der er/sie sich gestellt sieht, auch unsere Aufgaben und Probleme sein könnten. Wenn die Bedürfnisse des Helden oder der Heldin auch die unseren sind", schreibt Wilke. "Nichts anderes macht Märchen für Kinder attraktiv. Ein kleines Mädchen, das mit großer Faszination dem Märchen vom Rotkäppchen lauscht, spürt intuitiv, dass die Zeit kommen wird, in der es sich ohne elterlichen Schutz aus dem Haus begeben muss, um sich in der Welt zu bewähren. Es lernt aus den Erlebnissen des Rotkäppchens, dass diese spannende Erfahrung nicht ohne Risiken verlaufen kann und dass es darauf ankommt, diese Risiken zu kennen und sich auf sie einzustellen, dass es aber keinen Grund gibt, vor den Herausforderungen zu verzagen."

Ein kleines Mädchen, das mit großer Faszination dem Märchen vom Rotkäppchen lauscht, spürt intuitiv, dass die Zeit kommen wird, in der es sich ohne elterlichen Schutz aus dem Haus begeben muss, um sich in der Welt zu bewähren.

Lebendige Sprache lässt innere Bilder entstehen


Wilke zufolge liegt eine große Stärke der Märchen in ihrer Lebendigkeit und ihrem Bilderreichtum. Eine anschauliche Sprache erzeuge Bilder "eindrucksvoller Kraft und Klarheit". Gleichzeitig verzichteten Märchen auf eine zu starke Konkretisierung von Handlung und Protagonisten." Die Erzählungen liefern bewusst nur eine grobe Schablone, die sich die HörerInnen dann in ihrer Fantasie frei ausmalen können. Dies ermöglicht Kindern, entsprechend ihrem Alter und Entwicklungsstand eigene innere Bilder zu den Märchen zu entwickeln, sehr individuell und den eigenen Bedürfnissen angepasst."

Märchenbuch
Die Sprache in Märchen ist von eindrucksvoller Kraft und liefert Stoff und auch Platz für die eigene Phantasie. Bildrechte: imago images/Shotshop

Wünsche der Märchenfiguren sind Wünsche der Kinder

Die Vorstellung von einer Märchenszene können, aufgemalt auf ein Blatt, laut Wilke völlig verschieden sein und offenbaren die seelische Verfassung der Kinder. "Die Wünsche und Ängste der Märchenpersonen sind zugleich die Wünsche und Ängste der Kinder", schreibt Wilke. "Die Angst vor dem Verlust der Eltern und vor der Einsamkeit, wie bei Hänsel und Gretel, der Wunsch nach Stärke und Durchsetzungsfähigkeit wie im Märchen vom kleinen Däumling, die Angst davor, zu kurz zu kommen und gegenüber den Geschwistern nicht geliebt zu werden, wie beim Aschenputtel."

Die Wünsche und Ängste der Märchenpersonen sind zugleich die Wünsche und Ängste der Kinder.

Prinz (Pavel Travnicek) und Aschenbrödel (Libuse Safrankova)
Das Märchen vom Aschenputtel beschreibt laut Forschern die Angst zu kurz zu kommen und benachteiligt zu werden. Die Film-Inszenierung "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" gehört zu den erfolgreichstenn verfilmten Märchen, die es gibt. Bildrechte: picture alliance/dpa/WDR/Degeto

Märchen zeigen keine billigen Lösungen

Laut Forscher Wilke erfüllen Märchen Wünsche oft stellvertretend und haben somit eine Ersatzfunktion. Sie bedienten sich aber niemals billiger Lösungen, "sondern schildern stattdessen häufig, wie der Held oder die Heldin einen Entwicklungsprozess durchläuft, der ganz und gar nicht einfach ist und Mut, Herz und Klugheit verlangt, um ans Ziel zu gelangen." Im Märchen vom Wasser des Lebens sei der jüngste der drei Brüder nur deshalb erfolgreich, weil er im Gegensatz zu den beiden älteren bei aller gebotenen Eile die Achtsamkeit nicht vergisst. Unterwegs, um für den sterbenskranken Vater das rettende Wasser zu finden, begegne er dem Zwerg nicht arrogant und herablassend, sondern höflich und mit Herz, wodurch ihm der Weg zum Wasser des Lebens offenbart wird.

Pädagogischer Zeigefinger wird durch Kino im Kopf ersetzt

"Die kindlichen HörerInnen machen die Erfahrung, dass nicht letztlich Härte und Stärke entscheiden, also nicht der Einsatz des Ellenbogens, sondern Werte wie Mitmenschlichkeit, Solidarität mit den Schwächeren, Bescheidenheit und Geduld", erklärt Wilke. "Märchen sind moralisch, ohne zu moralisieren." Der erhobene pädagogische Zeigefinger werde durch das "Kino im Kopf" ersetzt. "Viele Märchen verdeutlichen, dass eine innere Entwicklung notwendig ist, dass man keinesfalls ängstlich verharren darf, sondern mutig voranschreiten muss. Hierzu bieten viele Volksmärchen Lösungsmodelle an, die von dem Kind verstanden werden können."

Viele Märchen verdeutlichen, dass eine innere Entwicklung notwendig ist, dass man keinesfalls ängstlich verharren darf, sondern mutig voranschreiten muss.

tomi

Link zur Studie

Hier finden Sie den Bericht der  Fachzeitschrift "Televizion".

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Brüderchen und Schwesterchen stehen auf einer Wiese schauen in die Ferne 58 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

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