Wissenschaft zur Fußball-WM Zeitlupe kann im Fußball zu Fehlentscheidungen führen

26. Juni 2018, 13:12 Uhr

Berührte ein Spieler zuerst den Ball oder seinen Gegner? Zeitlupenaufnahmen können helfen, Fakten zu klären. Geht es aber darum, ob jemand absichtlich gefoult hat oder nicht, verändern Zeitlupen die Urteile gefährlich.

WM-Begegnung Argentinien gegen Kroatien ein Foto der Foulsezene von Ante Rebic gegen Argentiniens Salvio.
Die strittige Szene zwischen Ante Rebić gegen Argentiniens Salvio: In der Zeitlupe wirken viele Aktionen ruppiger, als in Echtzeit. Bildrechte: Getty Images

Das hätte richtig schief gehen können für Kroatiens Nationalmannschaft: Als Ante Rebić in der 39. Minute des Vorrundenspiels gegen Argentinien seinen Gegenspieler Eduardo Salvio robust angeht, kassiert er dafür eine gelbe Karte vom Unparteiischen Ravshan Irmatov. Doch Argentiniens Trainer Jorge Sampaoli ist unzufrieden und fordert Rot. Videoassistent Felix Zweyer schaut sich die Szene zwar noch einmal an, verzichtet aber auf ein Eingreifen. Zum Glück für Kroatien.

Nur kurze Zeit später legt Rebić mit seinem 1:0-Treffer den Grundstein für den späteren Sieg der Kroaten. Dabei war die Gefahr durchaus groß, dass das Abspielen der strittigen Szene in Zeitlupe zu einem härteren Urteil führt. Denn Forschungen US-amerikanischer Psychologen zeigen, dass Zeitlupenaufnahmen Betrachter häufig zu Fehlurteilen darüber verleiten, ob ein Akteur absichtlich gehandelt hat oder im Affekt.

Absicht oder Unabsicht?

Im August 2016 veröffentlichten die US-Psychologen Eugene Caruso, Zachary Burns und Benjamin Converse eine Studie über eine Reihe von Experimenten. Ihre Probanden hatten unter anderem das Überwachungsvideo eines bewaffneten Raubüberfalls gesehen, bei dem der Täter auf der Flucht einen Polizisten erschoss.

Die Versuchspersonen sollten auf Basis des Videos entscheiden: Handelte der Täter in voller Absicht oder waren die Schüsse auf den Polizisten eine unkontrollierte Reaktion. Eine Hälfte der Gruppe sah die Aufnahme in Echtzeit, die andere bekam eine Zeitlupe zu sehen.

Bei der statistischen Auswertung zeigte sich: Die Zeitlupen-Gruppe vermutete vier Mal häufiger Absicht hinter der Tat, als diejenigen, die den Vorgang in normaler Geschwindigkeit gesehen hatten. Ähnliche Ergebnisse zeigten sich, als die Forscher den Versuch mit einer Spielszene aus dem American Football wiederholten.

Fehleinschätzung der Zeit führt zu Fehleinschätzung des Motivs

"Die falsche Wahrnehmung von Zeit ist ein Hauptfaktor dafür, ob Menschen vermehrt Absicht hinter einer Handlung vermuten", erklärt Zachary Burns von der Universität San Franzisco auf Anfrage von MDR-Wissen. Er hat die Begegnung Kroatien gegen Argentinien selbst gesehen und findet seine Forschungsergebnisse bestätigt. "Die Fernsehkommentatoren waren sich einig, dass Rebićs Aktion ein Foul war. Aber als sie die Wiederholung in Zeitlupe sahen, sagte einer: 'Das sieht wirklich bösartig aus'", so der Wissenschaftler.

Bei normaler Spielgeschwindigkeit fehle Spielern oft die Zeit, eine Situation in Bruchteilen einer Sekunde vollständig zu verstehen und eine Entscheidung zu treffen. Aber die Zeitlupe suggeriere den Zuschauern, dass Spieler genug Zeit hatten und dass sie deshalb in voller Absicht gefoult hätten, um ihre Gegner zu verletzen oder das Spielgeschehen zu beeinflussen.

Zum Ball oder zum Mann?

Burns ist allerdings nicht der Meinung, dass der Video-Assistent grundsätzlich die Gefahr von Fehlentscheidungen verstärkt. "Wir unterscheiden hier zwischen Beurteilungen und faktenbasierten Entscheidungen", sagt er. Gehe es etwa um die Frage, ob ein Spieler im Zweikampf zuerst den Ball oder seinen Gegner berührt habe, dann sei es eine faktenbasierte Entscheidung. Das gleiche gelte für Abseitssituationen. Hier könne die Zeitlupe Antworten liefern und dadurch Entscheidungen verbessern.

Müsse der Unparteiische aber entscheiden, ob ein Sturz vielleicht eine Schwalbe war, ob der Spieler also absichtlich auf besonders dramatische Weise stürzte, um eine Strafe für den Gegner zu provozieren, dann sei das eine Beurteilung. "Wenn sich zeigt, dass die Videoassistenz in solchen Situationen zu höheren Strafen führt, dann wäre das im Einklang mit unseren Forschungsergebnissen", sagt der Wissenschaftler.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL Radio | 21. Juni 2018 | 20:00 Uhr