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Zukunft der FamilieWahlverwandtschaft: Wenn Freunde zur Familie werden

15. Mai 2021, 12:00 Uhr

Familie kann man sich nicht aussuchen, heißt es. Das Lebensmodell der Wahlverwandtschaft beweist das Gegenteil und erfreut sich in Deutschland immer größerer Beliebtheit. Doch warum ist das so? Und wie funktioniert sie, die Wahlfamilie?

"Freunde sind Gottes Entschuldigung für Verwandte." Soll der berühmte irische Dramatiker George Bernhard Shaw gesagt haben. Bildrechte: Colourbox.de

Immer mehr Menschen in Deutschland leben außerhalb einer klassischen Familie, also nicht als "Mutter-Vater-Kind". Neben der Patchworkfamilie gehört die Wahlfamilie längst zu den Alternativen. Sie ergibt sich oft für diejenigen, die allein leben und dennoch das Bedürfnis nach Nähe, Verständnis und auch Sicherheit haben. Doch was ist die Wahlfamilie eigentlich? Ab wann Nachbarn oder Freunde zu Wahlverwandten werden, ist individuell sehr verschieden, sagt der Zukunftsforscher und Psychologe Prof. Ulrich Reinhardt:

Prof. Ulrich Reinholdt forscht zu Fragen der Zukunft. Bildrechte: Bertold Fabricius

Da spielen Vertrauen, Vertrautheit sowie die Intensität und die Regelmäßigkeit der Kontakte eine Rolle. Und die Frage: Wieviel Verantwortung möchte man füreinander übernehmen?

Prof. Ulrich Reinhardt, Wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Zukunftsfragen

Durch Zahlen und Maße lässt sich schwer festlegen, ab wann Freunde zu einer Wahlfamilie werden. Doch der Vergleich zur traditionellen Familie kann hier helfen: Was würde ich jetzt mit meiner Familie besprechen, ihr anvertrauen? Was würde ich mit meinen Verwandten unternehmen? Welche Hilfe würde ich anbieten oder welche Unterstützung könnte ich erwarten? Wenn die Antworten auf diese Fragen auch auf die Freunde zutreffen, sind sie durchaus Wahlverwandte.

Ist die Wahlfamilie pflegeleichter?

In eine Familie wird man hineingeboren oder man kommt hinzu als Ehepartner, Lebenspartner oder Schwiegerkind. Demzufolge kann man sich die einzelnen Mitglieder nicht aussuchen und muss sich mit ihnen arrangieren. Wahlverwandte hingegen hat man sich, wie der Name schon sagt, ausgewählt. Es sind Freunde oder Nachbarn, denen man über Sympathie nähergekommen ist und zu denen sich ein solches Vertrauensverhältnis entwickelt hat, dass sie sich wie Familie "anfühlen". Ob das Miteinander tatsächlich auch einfacher ist, ist nicht erforscht. Maßgeblich für die Qualität der Bindung, ganz gleich in welchem Lebensmodell, ist das Vertrauen, das man teilt, so Prof. Ulrich Reinhardt.

Je mehr das Vertrauen zu Institutionen, in den Staat, in die Kirche, in die Medien, in Unternehmen usw. sinkt, desto größer ist das Bedürfnis der Menschen, anderen Menschen vertrauen zu können. Und dieses Bedürfnis fängt die Wahlfamilie ganz gut auf.

Dr. Ulrich Reinhardt

Die Gründe, sich für Wahlverwandte zu entscheiden, sind verschieden. Wenn man keine eigene Familie hat, sie zu weit weg wohnt, man das Vertrauen in die Blutsverwandten oder in die Liebe verloren hat, sind zuverlässige, belastbare Freundschaften eine wertvolle Alternative. Ihre Bedeutung hat seit der Jahrtausendwende zugenommen, wie eine Studie der Stiftung Zukunftsfragen zeigt. Während 2002 für 83 Prozent der Befragten die Freunde noch vor dem Partner und der Familie die wichtigsten Bezugspersonen waren, waren es 2010 schon 92 Prozent.

Wer glücklich alt werden will, muss Freundschaften pflegen

Zukunftswissenschaftler Prof. Horst W. Opaschowski interpretiert die Zahlen als einen Wertewandel. Vor dem Hintergrund einer ständig steigenden Lebenserwartung könne es nicht mehr nur um den materiellen Wohlstand gehen, sondern um das soziale Wohlergehen bis ins hohe Alter. So sind inzwischen für drei Viertel der Bevölkerung Freunde eine Art zweite Familie, für Alleinlebende sogar ein gleichwertiger Familienersatz. Dass das im Hinblick auf die Lebenszufriedenheit möglich ist, konnte der Psychologe Prof. Franz J. Neyer von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena gemeinsam mit seiner Kollegin Prof. Cornelia Wrzus aus Heidelberg in einer Studie belegen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die keine enge Beziehung zu ihrer Familie, aber dafür gute Freunde hatten, waren ähnlich zufrieden wie diejenigen, die stark in ihren familiären Bindungen verhaftet waren.

Traditionelle Familie bleibt wichtig

Trotz der alternativen Lebensmodelle, die sich entwickelt haben, bleibt der Wert der traditionellen Familie in Deutschland ungebrochen. So waren laut Familienreport des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2019 für 77 Prozent der Bevölkerung die Familie der wichtigste Lebensbereich und damit seit 2006 nahezu stabil.

Die Wahlfamilie ist momentan eine Ergänzung unserer Lebensmodelle, aber kein Ersatz für die klassische Familie in großem Maße.

Prof. Ulrich Reinhardt, Zukunftsforscher

krm

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