Wandlitz und der Spätsommer 1989

22. November 2021, 09:50 Uhr

Seit 1960 lebten die Mitglieder des SED-Politbüros streng abgeschottet von der Bevölkerung in ihrer eigenen Welt in der Waldsiedlung Wandlitz. Diese Realitätsferne führte zu kapitalen Fehleinschätzungen der Lage der DDR.

Die Waldsiedlung Wandlitz im Norden von Berlin war seit ihrer Entstehung in den Jahren 1958 bis 1960 der Wohnort der Partei- und Staatsführung der DDR - streng abgeschirmt mit einem acht Kilometer langen Betonzaun. Damit die Siedlung im Waldgebiet nicht auffällt, hatte man die Umzäunung grün angestrichen. Mehr als 600 Angestellte schafften für die Politbüromitglieder eine Atmosphäre der Behaglichkeit und Ordnung. Es gab sogar einen sogenannten "Hab mich lieb Befehl", in dem Staatssicherheitsminister Erich Mielke von den Angestellten forderte, dass sie den hohen Funktionären jeden Wunsch von den Augen ablesen sollen.

Abgeschottet von der Bevölkerung

Das private Leben in solch einer Enklave hatte natürlich Vorteile in einer Mangelgesellschaft - man konnte sich außerhalb der Öffentlichkeit besser versorgen als der Rest des Volkes. Aber es hatte auch einen gravierenden Nachteil: Man hatte weniger Kontakt zum "Otto Normalbürger". In der sich verschärfenden Krisensituation ab dem Sommer 1989 wurde die Kluft der zwei Erlebniswelten auf bizarre Weise spürbar. Die Mehrzahl der Genossen des Politbüros war nicht gewillt, den gravierenden Problemen in der DDR auf den Grund zu gehen. Obwohl das Land in Aufruhr war, und das nicht nur, weil sich Zehntausende in Richtung Westen absetzten. Es waren die sich formierende Bürgerbewegung und sich häufende kritische Stimmen aus den eigenen Reihen der SED, die den Führungsanspruch der alten Herren um SED-Chef Erich Honecker in Frage stellten.

Überall wittert Honecker Verrat

In dieser Situation führte der seit Jahren unterbrochene direkte Kontakt zum Volk zu einer kapitalen Fehleinschätzung der Lage insbesondere durch Honecker. Er sah in allen Kritikern nur Feinde seines DDR-Sozialismus. Selbst in seiner unmittelbaren Umgebung witterte er Verrat. Geschwächt durch seine Gallenerkrankung ging der Staatschef im Juli 1989 in den Jahresurlaub nach Drewitz in die Nossentiner Heide. Umgeben von seinen Bodyguards und den mitgereisten Angestellten aus Wandlitz wollte er sich hier ungestört erholen, um sich im August einer Gallenoperation zu unterziehen. Mit seiner Frau Margot und im Kreise seiner Enkelkinder machte er zunächst aber erst einmal Ferien. Derweil sich im Lande revolutionsverdächtige Gewitterwolken zusammenzogen.

Jagdausflüge im Herbst 1989

Als Honecker nach vier Wochen Entspannung Anfang August wieder eine Politbüro-Sitzung in Berlin leitete, sorgte er für eine faustdicke Überraschung. Er schickte Krenz sofort in den Urlaub und machte Günter Mittag, im Politbüro für Wirtschaftsfragen zuständig, zu seinem Stellvertreter. Er selbst unterzog sich nun der geplanten Gallenoperation und kurierte sich anschließend auf der Regierungsresidenz Groß Dölln aus. Hier spielte Honecker auf Zeit, wie sich sein Leibarzt Professor Kant erinnert. Honecker ließ niemanden zu sich, er entschied, welche Informationen zu ihm gelangen sollten und welche nicht. Selbst in dringenden Fällen, so sein Leibwächter Bernd Brückner, ging Honecker lieber mit Günter Mittag auf die Jagd, als sich den Problemen des Landes zu widmen.

Am 7. Oktober dem ganzen Spuk ein Ende machen

Seinem Arzt vertraute Honecker in Groß-Dölln auch seinen geheimsten Wunsch an: Er werde hier an seiner Rede zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober arbeiten und diese Rede werde dann "dem ganzen Spuk" - gemeint war die Protestbewegung in der DDR - ein Ende machen. Genau in dieser Selbsttäuschung und -überschätzung begann die "Wandlitz-Mentalität" des sich Einigelns und Abschottens schließlich ins Absurde zu kippen. Die beschworene Gemeinschaft von Partei und Volk hatte mit der Realität nichts mehr gemein. Doch Honecker glaubte fest an seinen propagandistischen Coup - bis er von der Realität eingeholt wurde ...