Ludwig Erhard
Ludwig Erhard Bildrechte: imago/Rust

Altkanzler Ludwig Ehrhardt: Vorlage für die Wiedervereingigung Wie Ludwig Erhard zum "Vater der Währungsunion" von 1990 wurde

Interview mit Historiker Marcus Böick

22. Oktober 2021, 12:06 Uhr

Der Historiker Marcus Böick ist bei seinen Recherchen zur Treuhand auf einen brisanten Aufsatz gestoßen: Ludwig Erhard hat bereits 1953 das Szenario einer deutsch-deutschen Wiedervereinigung aufgeschrieben - inklusive Wirtschaftswunder. Auch schrieb er von einem "klaren Schnitt" und dass die Ostdeutschen die D-Mark bekommen sollen. Dieses Papier ging 1990 innenpolitisch quasi viral und wurde Vorlage der Währungsunion.

Herr Böick, bei Ihren Forschungen zur Geschichte der Treuhand sind Sie auf eine interessante Spur gestoßen. Es ist Januar 1990, in der DDR und der Bundesrepublik wird noch die Idee einer deutsch-deutschen Konföderation hitzig diskutiert, da schieben sich ein paar Bonner Spitzenbeamte einen "uralten" Aufsatz gegenseitig zu. Titel: "Wirtschaftliche Probleme der Wiedervereinigung". Geschrieben von Ludwig Erhard. 1953. Drei Monate nach dem berühmten Juni-Aufstand in der DDR.

Marcus Böick: Ja, mir war zunächst erst mal nur aufgefallen, dass dieser Aufsatz 1990 immer wieder auftaucht in Bundestagsdebatten. Dann, beim Beginn der Verhandlungen zur Währungsunion, übergibt Horst Köhler, damals Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und Leiter der westdeutschen Delegation beim ersten Treffen, ein Exemplar davon seinem Verhandlungspartner: dem späteren DDR-Finanzminister Walter Romberg. Und dann, ganz prominent natürlich: Ende Januar bekommt Helmut Kohl den Aufsatz von seinen Beamten zugeleitet. Er solle da mal reinschauen. Und das ist erst mal überraschend. Warum lesen die alle einen Text aus den 1950er Jahren?

Ja, warum lesen sie ihn? Mangel an Arbeit dürfte es kaum sein. In der Bundesrepublik herrschte im Januar 1990 ja Ausnahmezustand. Bis zu 3.000 DDR-Bürger siedeln pro Tag über.

Ja, innenpolitisch gerät Helmut Kohl zu der Zeit enorm unter Druck, endlich irgendeine Lösung zu formulieren. Er hatte zwar Ende November sein Zehn-Punkte-Programm vorgestellt. Aber danach war er auffällig ruhig. Während die Ereignisse sich von Woche zu Woche überschlagen. Helmut Kohl selbst hat die Situation damals mal so auf den Punkt gebracht: Eigentlich siedelt die komplette Einwohnerschaft Dessaus pro Monat über. Und diese Situation erinnert ihn und andere frappierend an das, was Erhard 1953 beschreibt.

Was schreibt Erhard denn da?

Also Erhard beschreibt in diesem Rundbrief der Bundesregierung das Szenario einer wirtschaftlichen Wiedervereinigung. Das ist natürlich in den frühen 1950ern noch keine extrem ferne Vorstellung - siehe Volksaufstand, siehe Stalinnote. Das sind ja alles Dinge, wo man sieht: Es kann mit einem Mal auch sehr schnell gehen. Und Erhard, damals ja noch Bundeswirtschaftsminister, überlegt: Was würde das denn für wirtschaftspolitische Konsequenzen haben, wenn es zu einer Wiedervereinigung käme? Er hat da im Blick, was wir heute das "Wirtschaftswunder" nennen - also die Wirtschaftszuwächse, die Wohlstandszugewinne, den ganzen neuen Konsum im Westdeutschland der 1950er. Und dann sagt er: Vielleicht ist angesichts dieses Aufschwungs, die westdeutsche Bevölkerung ja gar nicht allzu begeistert, wenn plötzlich 17 Millionen Ostdeutsche, "Zonenangehörige" da hinzutreten. Erhards große Sorge ist natürlich, dass dadurch die Legitimität in der Frage Wiedervereinigung leidet.

Und was für eine Lösung hat er parat?

Er sagt erst einmal, was es zu vermeiden gilt. Nämlich das Aufkommen einer Planwirtschaft durch die Hintertür. Da sieht er die größte Gefahr, wenn plötzlich dieser große planwirtschaftliche Sektor von nebenan hinzutritt. Seine Schlussfolgerung ist dann: Wir müssen verhindern, dass, wenn dieser Tag X einmal eintritt, Beamte diesen wirtschaftspolitischen Annäherungsprozess gestalten. Weil die Beamten das aus seiner Sicht gerade nicht können.

Das muss man vor dem zeitgenössischen Hintergrund sehen: Also Markt versus Plan. Das ist ein durchaus noch offener Konflikt in Erhards Wahrnehmung. Denn es ist noch gar nicht so lange her, dass in den 1940er Jahren, in der Nachkriegszeit, auch die West-CDU für Planwirtschaft war. Weil sich diese Wirtschaftsform im Weltkrieg als scheinbar überlegen gezeigt hat. Und die Marktwirtschaft hat immer noch einen lädierten Ruf. Denken Sie an die Weltwirtschaftskrise.

Über Marcus Böick Marcus Böick wurde 1983 in Aschersleben geboren. Er studierte Geschichte, Politikwissenschaft, Soziologie und Sozialpsychologie an der Universität Bochum. 2018 hat er bei Wallstein das Buch "Die Treuhand: Idee-Praxis-Erfahrung 1990-1994" veröffentlicht.

Aber wer soll diese Angleichung, den Strukturwandel denn dann vornehmen, wenn der Staat und seine Beamten sich raushalten sollen?

Ja, das ist ganz interessant. Erhard sagt: Wir brauchen gar keinen langen Übergangszeitraum. Wir brauchen keine staatliche Planung. Wir müssen das alles in einem radikalen Akt erledigen. Es muss eine Art Schnitt geben. Die Ostdeutschen bekommen die Deutsche Mark. Und dann müssen wir das Feld möglichst vom Staat bereinigen. Und Unternehmer müssen aktiv werden, um so etwas wie ein Zweites Wirtschaftswunder auszulösen.

Und diese Idee, so scheints, hat 1990 in Bonn tatsächlich einige elektrisiert, oder?

Oh ja, das Papier geht quasi viral. Vor allem in der Bonner Regierungskoalition. Das sieht man auch ganz klar in den Akten des Bundeskanzleramtes. Der Beamte, der sich dort mit dieser Frage beschäftigt, schreibt: Nehmen wir doch diesen Erhard-Aufsatz als Blaupause. Das hilft uns vielleicht ein Stück weit, wieder in die Offensive zu kommen. Und so kommt es ja dann letztlich auch.

Aber hat man wirklich dran geglaubt, dass sich diese Erhard-Idee 1:1 umsetzen lässt. Ganze 37 Jahre später? Da scheint mir schon auch eine Menge Wunschdenken dabei.

Nun, es gibt diese berühmten Konsultationen im Bundesfinanzministerium, wo man dann sagt: Wir machen denen den Vorschlag, geben die D-Mark und dann passieren die Wirtschaftsreformen. In einer Art Schock, Explosion, Urknall. Und das passiert dann ja auch am 06. Februar 1990, dass die Bundesregierung vorprescht und sagt: Ihr bekommt die D-Mark als ein Signal zum Bleiben. Und dann, wenn ihr die DM habt, gibt es ja auch ganz schnell so ein Wirtschaftswunder. 

Das findet damals ja aber alles nicht im luftleeren Raum statt. Auch die berühmten Ökonomen und Sachverständigen wurden ja zwischenzeitlich eingeschaltet. Und die haben massiv vor diesem Schritt gewarnt. Denn es war ihnen klar, was kommt: Eine Aufwertungsschock. Gefolgt von einer großen ökonomischen Krise. Hat man das damals bewusst ignoriert?

Ich denke, Erhards Vision war etwas, woran sich die Beamten in Bonn auch berauschen konnten. Die Wirtschaftswunderjahre - das hat ja bei vielen Jugend, Kindheit und frühes Erwachsenenleben geprägt. Die 1950er und 1960er als Boomzeit. Das Erlebnis: Konsum. Diese Sehnsucht, dass es wieder so eine Art Urknall gibt und dann schüttelt sich das alles wie 1948. Die Läden sind voll. Die Menschen kaufen. Das Land erlebt einen turbulenten Aufschwung … was übrigens gar nicht den historischen Tatsachen entspricht, wie viele Ökonomen und Wirtschaftshistoriker auch schon 1990/91 ganz hämisch festgestellt haben.

Die haben damals schon gesagt: Mensch, ihr habt ja ein völlig verqueres Bild des deutschen Wirtschaftswunders. Umsonst. Schon kurze Zeit später zeigt sich, dass diese Hoffnungen, die man sich eben auch in der Bundesregierung machte, dass die sich als Chimäre erweisen. Die rasche Währungsunion führte eben nicht zu einem urknallartigen Wirtschaftsaufschwung, sondern zu einer extremen Wirtschaftskrise, die eine der schwersten Wirtschafts- und Unternehmenskrisen ist, die wir je zu Friedenszeiten beobachten konnten. Der marktwirtschaftliche Urknall, der von Erhard als Befreiungsschlag beschrieben wurde, erweist sich für viele dann eher als das Todesurteil.

Diese Geschichte jetzt nur Ludwig Erhards verunglücktem Planspiel in die Schuhe zu schieben, greift sicherlich zu kurz. Es erschien ja damals auch alles irgendwie folgerichtig angesichts der Dimension des "Historischen Erfolgs". Nach 40 Jahren ewiger Systemkonkurrenz sind plötzlich alle im sozialistischen Ostblock pleite. Und keiner dort will mehr so weitermachen wie bisher.

Sicher, das darf man dabei auch nicht unterschlagen, dieses gewisse Triumphgefühl. 40 Jahre Kalter Krieg sind zu Ende. Und es ist auf keinen Fall eine Situation, wo man sagt: Zwei Gleiche kommen jetzt zusammen. Hier kommen wirklich mehrere Dinge zusammen, die erklären, warum nur noch der Markt die Lösung und der Staat das Problem sein soll. Für die Bonner Beamten war dass, was sich ihnen darbot, natürlich auch erst mal ein Alptraum. Vier Millionen Beschäftigte in 8.500 Staatsbetrieben der DDR. Man hat in den 70er und 80er Jahren versucht, sich vom Staatsbesitz freizumachen. Man hat die Lufthansa privatisiert. Große Energiekonzerne privatisiert. Wohnungsbestände privatisiert. Man hat die Post privatisiert. Alles mit großem Aufwand. Und auf einmal haben sie einen gigantischen Bestand an Unternehmen des kompletten Spektrums, vom kleinen Krämerladen bis zu riesigen Stahlwerken, wieder im Portfolio drin.

Und das erklärt natürlich auch diese Emphase auf die Marktwirtschaft. Denn auf keinen Fall - und das ist überhaupt das Credo der Bundesregierung - darf es Abstriche geben am westdeutschen Erfolgsmodell. So wie man es historisch eben durch den Mauerfall bestätigt sieht. Und damit kompensiert man ein Stück weit auch die eigene Unsicherheit. Weil man eben nicht genau weiß, was jetzt passieren soll. Und da lieferte eben der Ludwig Erhard für den Moment die perfekte Blaupause in den Augen der Zeitgenossen.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: MDR Zeitreise | Ersehnt und verflucht - die Westmark erobert den Osten | 28. Juni 2020 | 22:10Uhr