Marionettentheater im Osten Volkstheater an Fäden: Als die Genossen den Kasper verbieten wollten

02. Dezember 2021, 12:39 Uhr

Sie haben die DDR überlebt, doch die Corona-Pandemie droht nun die Tradition der Volkstheater auszulöschen. Die Dombrowskys sind Marionettenspieler in siebter Generation. Wie schon sein Vater, Großvater und Urgroßvater, betreibt Uwe Dombrowsky eine Wandermarionettenbühne. Gemeinsam mit seiner Frau Evelyn sind sie ein Zwei-Personen-Unternehmen und die letzte Marionettenbühne Thüringens.

Zu sehen sind verschiedene Aspekte aus dem traditionsreichen Leben der Marionettentheater-Familie Dombrowksy aus Sachsen.
Roswitha und Kurt, die Eltern vom heutigen Marionettentheaterbesitzer Uwe Dombrowsky, 1950er Jahre. Bildrechte: Familie Dombrowsky

Die Wandermarionettentheater, getragen durch eine Vielzahl kleiner, privater Familienunternehmen, passten nicht in die stalinistische Kulturdoktrin der Anfangsjahre der DDR. 1948 gab es in der sowjetischen Besatzungszone noch etwa 200 private Puppentheater. Etwa 50 davon waren traditionelle Marionettenbühnen. Zehn Jahre später besaßen nur noch knapp 40 Puppenbühnen eine Auftrittslizenz. Darunter 14 Marionettentheater. Am Ende der DDR hatten nur sechs Marionettentheater den sozialistischen Staat überlebt. 

Projekttheater "Holzoper" in Sachsen

Heute kann man im Osten Deutschlands nur noch an zwei Orten regelmäßig traditionelles Marionettentheater erleben. Uwe Dombrowsky betreibt mit seiner Frau Evelyn in Engertsdorf bei Altenburg ein kleines Marionettenmuseum mit Bühne. Das Marionettentheater, das er seit 1980 ursprünglich als Wandertheater in der siebten Generation betreibt, reist jedoch nicht mehr durchs Land. Die große Marionettenbühne seines Vaters Kurt Dombrowsky kann man heute noch in Frankenberg in Sachsen erleben. Das Projekttheater "Holzoper" bietet regelmäßig Vorstellungen mit den gut einen Meter hohen Marionetten der Familie Dombrowsky-Kressig an.

Doch wie kam es zu diesem kulturellen Aderlass, dem fast vollständigen Auslöschen einer so alten Theatertradition in Mitteldeutschland? Als der bekannte sowjetische Puppenspieler und Direktor des Zentralen Staatlichen Moskauer Puppentheaters, Sergej Obraszow, 1950 in der DDR gastierte, wurde er von Kulturfunktionären der SED gefragt, ob es denn in der Sowjetunion auch Marionettentheater gäbe. Obraszow antwortete: "Ja, eins. In Leningrad im Museum."

Puppentheater nach sowjetischem Vorbild

Unbeabsichtigt - und sich dessen sicher nicht bewusst - hatte er damit den Bannspruch über die alte Tradition Deutscher Marionettenbühnen gesprochen. Zu dieser Zeit galt der Lehrsatz: Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen. Auch auf dem Felde der Kultur. Und so begann man, in den unter sowjetischer Vormacht stehenden osteuropäischen Volksrepubliken, zentrale staatliche Puppentheater zu gründen. In den meisten dieser Länder wurden private Puppenbühnen als Überbleibsel eines bürgerlich-kapitalistischen Kulturbetriebes kurzerhand verboten, enteignet und verstaatlicht. Ganz so drastisch ging man in der DDR nicht vor. Zu groß war die Angst vor möglichen Schlagzeilen der Westpresse "Kommunisten verbieten den Kasper."

Doch auch in der DDR sah man die Zukunft des Puppentheaters in staatlichen Bühnen, in der Verwendung von Stabpuppen nach sowjetischem Vorbild und in einer nichtnaturalistischen Bühnenästhetik ohne die Figur des Kaspers.

Repressive Lizenzvergabe und Zensur

Die Kulturfunktionäre der DDR entledigten sich der unliebsamen, als Familienunternehmen geführten Marionettentheater, indem sie die Lizenzen nur unter strengsten Auflagen erteilten. Die Marionettenspieler mussten, als sie nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Spielbetrieb wieder aufnehmen wollten, stets eine Auftrittserlaubnis von den lokalen, sowjetischen Kommandanturen einholen. Diese hatten dafür zuständige Abteilungen für Volksbildung in den Landratsämtern und den örtlichen Kulturausschüssen. Das war ein enormer Aufwand für die Theaterschaffenden. Denn zusätzlich zum Anmieten der Wirtshaussäle, dem Organisieren der Transporte von Gastspielort zu Gastspielort und dem alltäglichen Kampf um Lebensmittel und Brennmaterial, kam nun auch diese Hürde dazu.

Mit der Gründung der DDR sollte der Spielbetrieb über eine Lizenz geregelt werden. Ähnlich der Auftrittslizenz für private Zirkusunternehmen. Die Vergabe erfolgte für die Puppenbühnen zentral in den neu geschaffenen Ländern, und wurde dort unterschiedlich streng geregelt. Aber auch das Erlangen dieser Spiellizenzen war mit der Vorlage von Spielplänen, von genauen Tourneeplänen, mit Vorspielen und der Zensur von Texten verbunden. Fast die Hälfte der traditionellen Stücke fielen in dieser Phase bereits dem Aufführungsverbot zum Opfer. Die Auftrittslizenzen wurden meist nur für wenige Monate erteilt. Mussten also immer wieder neu beantragt werden. Die Willkür der Behörden war allgegenwärtig. Immer mehr Familien gaben darum ihre Unternehmen auf.

Ab 1950: Erneute Welle von Theaterschließungen

Ab 1952 ging das Lizenzverfahren für die Marionettentheater von den Ländern über in die Zuständigkeit der zentralen Regierung in Berlin. Anfangs erteilt vom Amt für Information, später vom Ministerium für Kultur. Noch einmal sollten alle Theaterunternehmen erfasst und bewertet werden. Diese Kontrollen zogen sich bis 1954 hin. Ihr Ergebnis: eine erneute Welle von Theaterschließungen nach dem Nichterteilen von Lizenzen. Das Klima für die privaten Marionettentheater hatte sich weiter verschlechtert. Insbesondere nach der fünften Tagung des Zentralkomitees der SED im März 1951.

Eine der Forderungen dieser Tagung war "… der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur." Eine These der entbrannten Formalismus-Debatte war, dass es eine Kunst um der Kunst willen, also der reinen Form wegen, nicht geben kann. Inhalt und Form haben stets eine Einheit zu bilden. Und Inhalt der sozialistischen Kunst soll der Kampf der Arbeiter und Bauern beim Aufbau des Sozialismus sein.

Schon allein die äußere Form der traditionellen Marionettenbühnen entsprach nicht den engen Vorstellungen der Kulturfunktionäre. Eine, ein barockes Theater imitierende, Prospektmalerei, eine illusionistische Perspektivbühne und ein Repertoire, das um volkstümliche Lustspiele und Historienstücke kreist, konnte nach Meinung der Genossen nicht mehr den Ansprüchen der neuen Zeit genügen. Das Urteil: "Nicht im sozialistischen Sinne entwicklungsfähig" konnte dann genügen, dem Theater die Lizenz zu verweigern. In ihrer Not übermalten einige Wanderbühnen ihre barocken Bühnenprospekte und präsentierten sich, sehr zum Unwillen ihrer Zuschauer, als schwarze Guckkastenbühnen.

Grimms Märchen unterliegen staatlicher Zensur

Doch insbesondere die Stückauswahl gestaltete sich über 20 Jahre als besonders problematisch. Selbst klassische Märchen der Gebrüder Grimm, in denen Könige oder Fürsten als Vertreter des Adels nicht als besonders bösartig oder als besonders dumm dargestellt wurden, fielen der Zensur zum Opfer. Manchmal halfen aber auch schon kleine Tricksereien bei der Titelgebung. So konnte etwa das Märchen "Rumpelstilzchen" der Zensur entgehen, nachdem man es in "Die fleißige Spinnerin" umbenannt hatte.

Obwohl es Versuche gab, den Marionettenbühnen sozialistische Dramatik an die Hand zu geben, scheiterte deren Umsetzung meist am Desinteresse des Publikums. Die Leute auf dem Lande, die im Wirtshaus für die Vorstellungen des Marionettentheaters bezahlten, wollten unterhalten und nicht belehrt werden. Die von vielen Bühnen gespielte "Geschichte der Gräfin Cosel" war den meisten Zuschauern allemal lieber, als die Darstellung von Problemen der Maschinenausleihstation oder bei der Kollektivierung der Landwirtschaft.

Der Kasper: Eine suspekte Figur

Insbesondere die Figur des Kaspers war den Kulturpolitikern suspekt. Weniger im Marionettentheater, wo er meist als mehr oder wenige lustige Randfigur in den Stücken verschwand. Schwierig war diese Figur im Handpuppenspiel. Der Kasper der Jahrmarktstheater war den Genossen zu zotig. Aber auch in seiner Art der Improvisation schwer zu kontrollieren. Auch in den künstlerischen Handpuppentheatern war der Kasper eine Figur, die nur allzu oft die abgenommenen Texte verließ und tagesaktuelle Bezüge improvisierte. Außerdem war die Figur nicht klar einer Klasse zuzuordnen. Der Kasper war kein Prolet. Später versuchte man ihn als Plebejer, der noch kein proletarisches Bewusstsein haben konnte, zu rehabilitieren.

Zu sehen sind verschiedene Aspekte aus dem traditionsreichen Leben der Marionettentheater-Familie Dombrowksy aus Sachsen.
Uwe Dombrowsky und Kollegen beim Komödiantenfest im Osterzgebirge, 1987. Bildrechte: Familie Dombrowsky

Insgesamt muss man feststellen, dass die repressive Lizenzpolitik ihren Erfolg hatte. Glaubte man doch, durch allmähliches "Ausdünnen" der Privattheater und keine Vergabe von Lizenzen an Neugründungen, das Problem gewisser Maßen "biologisch" zu lösen. Nur wenige Familien (wie zum Beispiel die Familie Kressig-Dombrowsky) hielten dem jahrlangen Druck seitens der Behörden stand.

Puppentheater wiederentdeckt als Volkstheater

Erst in den 70er-Jahren entspannten sich die Verhältnisse für das Marionettentheater. In der sozialistischen Kultur- und Theaterwissenschaft wurde eine neue Erbe-Diskussion entfacht. Die große Tradition des Puppentheaters ist nun als Volkstheater wiederentdeckt und neu bewertet. Hinzu kam, dass 1975 an der Staatlichen Schauspielschule Berlin erstmals eine Puppenspielerklasse eröffnet wurde. Die jungen Studenten stellten Fragen, die man nicht mehr ohne weiteres beantworten konnte: Warum sollen wir nicht mit Marionetten spielen? Warum keine holzgeschnitzten Handpuppenfiguren verwenden? Warum nicht den Kasper?

Mentor für junge Puppenspieler

Eine neue Generation von akademisch ausgebildeten Puppenspielern forderte nun all diese Spieltechniken wieder ein. Die jahrzehntelang nur geduldete Marionettenbühne der Familie Dombrowsky wurde 1976 sogar nach Berlin, zur Eröffnung des Theaters unterm Dach im Palast der Republik eingeladen. Dombrowsky wurde zum Mentor für junge Puppenspieler in den staatlichen Puppentheatern berufen. Er lehrte dort die Kunst des Marionettenführens. Im Auftrag des Theaterverbandes der DDR entstanden Anfang der 80er-Jahre sogar vier kleine DEFA-Dokumentarfilme über traditionelle Marionettentheater und ihre Reisen übers Land. Als die Kulturpolitik der DDR Ende der 80er Jahre soweit war, die Bekämpfung der Wandermarionettentheater als Fehler einzugestehen, war es für eine Rehabilitierung zu spät.

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