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Autorin Valerie Schönian im GesprächMama, Papa, übrigens - ich bin jetzt wieder ostdeutsch!

06. Dezember 2021, 14:37 Uhr

Warum Nachwendekinder 30 Jahre nach der Wiedervereinigung (immer noch) ihre ostdeutsche Identität entdecken. Und was Ostbewusstsein, verschwundene Dialekte und das "Ossi-Gejammer“-Bashing über den Stand der Einheit verraten.

Als Valerie Schönian, Jahrgang 1990, ihren Eltern eröffnet, dass sie gerade dabei ist, ihr "Ostdeutschsein" wiederzuentdecken, rechnet sie bereits mit größerem Widerstand. Und ist dann doch etwas überrascht von der Wucht der Absage:

Mein Papa sagte: "Was hast Du denn noch mit dem Osten zu tun?" Und dann entwickelte sich eine mehrstündige Diskussion, weil meine Eltern erstens bestritten, dass ich ostdeutsch sei. Und was ich noch irritierender fand: Sie bestritten das auch für sich selbst.

Valeria Schönian | Interview mit MDR ZEITREISE

Zu dem Zeitpunkt, als Mutter Anke und Vater Torsten sich in Magdeburg demonstrativ zurücklehnen und die "Ossi-Werdung“ ihrer Tochter mit gehöriger Skepsis betrachten, ist Valerie Schönian freilich schon abgehärtet. Denn für ihr Buch "Ostbewusstsein" hat die Autorin der Wochenzeitung "Die ZEIT" bereits wochenlang quer durch die Republik Gespräche geführt – mit denen, die so wie sie unmittelbar vor oder nach 1990 geboren wurden, der Generation der ostdeutschen Nachwendekinder.

Ostdeutsche Identität wird spät entdeckt

Schönian hat in diesen Gesprächen immer wieder eine Gemeinsamkeit ausgemacht: Die ostdeutsche Identität, ein Bewusstsein für den Unterschied Ost/West, trat bei den Nachwendekindern oft erst spät, und mit einem "Weltenwechsel“ verbunden, zutage. Nach der Schule weggehen, Richtung Westen, so Schönian, das sei für sie wie viele ihrer Generation damals in den 2000er-Jahren eine völlig unhinterfragte Wanderungsbewegung gewesen. "Wenn man kann, dann geht man halt!". Studium, Karriere, Jobs – all das wartete fern von daheim. Und so verschwinden ganze Abiturjahrgänge. Gedanken machen sie sich nicht. Jugend und Aufbruch, das passt seit jeher zusammen. Der gelebten deutsch-deutschen Wirklichkeit im Westen steht nichts im Weg, bis unvermittelt ein Riss auftaucht – beziehungsweise von außen markiert wird:

Eine wurde zur Ostdeutschen, als ihre Mama von westdeutschen Kommilitoninnen 'Rabenmutter' genannt wurde, weil sie Vollzeit arbeiten ging. Eine andere, weil ihre Kollegen in Süddeutschland nach der Bundestagswahl sagten: 'Wir zahlen für den Soli, und dann so ein Wahlergebnis. Echt unglaublich'. Und noch eine andere, als sie in einer Gruppe von Mitstipendiaten saß und bemerkte, dass ihre Eltern die Einzigen waren ohne Abonnement einer überregionalen Zeitung. Es begann bei allen stets mit diesem diffusen Gefühl, das sie nicht einordnen konnten.

Valerie Schönian | "Ostbewusstsein"

Egal ob in Bochum, Bremen oder München – mit der Verlagerung des eigenen Lebensmittelpunktes in Richtung westdeutsche Hemisphäre wird das "alte", für selbstverständlich erachtete Leben, der Sozialisationsraum Ost, plötzlich erklärungsbedürftig. Unerwartet sehen und sahen sich viele der ostdeutschen Nachwendekinder mit Fremdzuschreibungen und vor allem Vorurteilen konfrontiert. Unabhängig davon, ob sie sich freiwillig oder unfreiwillig als Ostdeutsche "geoutet“ haben. Wie Valerie Schönian selbst werden sich viele gewisser Schutzmechanismen erst im Nachhinein bewusst:

Ich habe zum Beispiel meinen ostdeutschen Dialekt abgelegt. Lange dachte ich, der sei einfach irgendwann von selbst verschwunden. Aber eigentlich stimmt das gar nicht. Sondern ich bin so oft dafür ausgelacht worden, wie ich 'Geschörrspüler', 'ölf' oder 'Kürsche' sagte, was mich irgendwie kränkte, so dass ich es gelassen habe. (…) Ostdeutsche Dialekte sind negativ konnotiert. Mein Dialekt ist negativ konnotiert.

Valerie Schönian

Ostdeutschland und Westdeutschland nicht auf Augenhöhe

Man kann es wohl als Erfolg des Projekts deutsche Einheit betrachten, dass sich junge Ostdeutsche wie Valerie Schönian längst nicht mehr scheuen, diese prägenden Erfahrungen heute zu thematisieren. Denn Angriffe bleiben nicht aus: Waren wir nicht schon mal weiter? Was bringt das jetzt, wieder dieses Ossi-Wessi-Ding auszugraben? – Das alles vergrößere doch nur den ohnehin vorhandenen Spalt. Ein Punkt wird für Valerie Schönian grundsätzlich:

Mittlerweile zeigt sich für mich eines eindeutig: Gerade weil momentan so viel über den Osten gesprochen wird, gerade weil auch wir Nachwendekinder mitreden – gerade darin zeigt sich, dass wir weiter sind. (…) Ost- und Westdeutschland sind sich in den vergangenen dreißig Jahren ja noch nie auf Augenhöhe am Tisch begegnet. Diskursmacht, Führungskräfte, Wirtschaftsmacht, historische Haupterzählung: alles westdeutsch. Nur bekommen das mittlerweile immer mehr Menschen mit, weil wir jetzt darüber sprechen.

Valerie Schönian

Autorin Valerie Schönian ist in Magdeburg aufgewachsen. Das "Ostbewusstsein" hat sie über die Jahre entwickelt. Auch wenn sie nicht mehr in Magdeburg wohnt, nennt sie die Stadt trotzdem Heimatstadt. Bildrechte: imago images/epd

Das Klischee vom "Jammer-Ossi"

Das scheinbar "Normale", die unsichtbare Norm des Westens, wurde bislang noch nie hinterfragt. Dass es ganz spezifische Ursachen dafür gibt, warum der Osten "rausfällt" – kulturell, wirtschaftlich, politisch – wurde allzu lange als lästiges Überbleibsel eines überwundenen Systems mitsamt kollateraler Systemschäden abgetan und, als wäre das nicht schon genug, noch mit der Formel vom ewigen "Jammer-Ossi" übergossen. Dass diese ewiggleiche, westdeutsche diskursive Folie durch junge Ostdeutsche jetzt gebrochen wird, ist ein Achtungszeichen, dass sich nach 30 Jahren deutscher Einheit noch einmal etwas zu verschieben beginnt. So jedenfalls deutet es auch Mandy Tröger, eine Münchner Historikerin mit ostdeutschen Wurzeln:

Ich glaube schon, dass da gerade eine Menge Denkprozesse einsetzen. Dass auch ein Bewusstsein dafür wächst, dass viele Leute, die Geschichte im Osten gelebt haben bislang im großen bundesdeutschen Diskurs nicht viel Stimme hatten oder bekamen. Das liegt natürlich auch daran, dass hier im Westen der Osten wirklich ganz weit weg ist. Der ist im Prinzip – außer es geht um Pegida und AfD – eigentlich nicht relevant. Unter anderem deshalb passieren ja gerade auch so viele Sachen, Initiativen von Wende- und Nachwendekindern, die den Erfahrungshorizont beider Seiten haben und die nun fordern, dass man sich anders mit der Lebensrealität im Osten auseinandersetzt. Ich glaube, auch die Wissenschaft hängt da noch sehr hinterher.

Mandy Tröger, Sozialforscherin an der Ludwig-Maximilians-Universität München

Westdeutsche Weichenstellungen prägen den Osten

Lange Jahre sei die Geschichtswissenschaft sehr stark durch ein "Diktatur-Framing" geprägt gewesen, so Tröger das heißt durch eine DDR- und Wende-Aufarbeitung, die den Wechsel vom System der Diktatur hin zu einer Demokratie in den Mittelpunkt stellt. Doch heutige "Erblasten", mit denen "der Osten" kämpft, gehen eben nur zum Teil auf diese Hinterlassenschaften des Sozialismus zurück. Vieles ist mindestens genauso Folge bundesdeutscher Weichenstellungen 1990, die bislang in der öffentlichen Wahrnehmung nur geringe Beachtung fanden.

Umso wichtiger sei da das neuerwachte Interesse junger Ostdeutscher, die nun auf neue, intelligente und vielfältige Weise "strukturelle Abhängigkeiten" des Ostens in den Blick nähmen, so Tröger. Und vor allem selbstbewusst einen neuen Umgang damit einfordern. In Blogs, Gruppen, Online-Foren – den bevorzugten Tools der Generation Nachwende – werden so geographisch wie taktisch weite Spielräume abgesteckt. Und nebenher auch ein Sozialisationsraum Ost, wie er seit den 1990er-Jahren prägend war war – und wie ihn die Autorin Valerie Schönian, heute 30 Jahre alt, erinnert und reflektiert:  

Ich glaube zum Beispiel, dass meine Generation auch ganz gut utopisch denken kann. Wenn du halt in einem Landesteil aufgewachsen bist, wo alles noch nicht so fertig ist, wo deine Eltern nicht sagen: 'Kind, du musst studieren, damit du was wirst!' – sondern wo deine Eltern sagen: 'Mach, was Du willst!', wenn du also mehr Freiräume hast, dann stellst du auch mehr Fragen. (…) Ich habe dadurch, glaube ich, auch ein ganz anderes Selbstbewusstsein als Nachwendekind. Ich verbinde mit dem Osten überhaupt nichts Negatives mehr, sondern das ist ein ganz natürlicher Teil meiner Identität – während die Generation meiner Eltern das nach der Wende bewusst erlebt hat, wie die Ostdeutschen erst Ostdeutsche wurden. Und wie ostdeutsch zu sein, dann immer der Unterschied war, der mal verschwinden sollte.

Valerie Schönian | Interview mit MDR ZEITREISE

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR ZEITREISE | 27. September 2020 | 22:20 Uhr