Jan Ullrich - vom gesamtdeutschen Sportstar zum gefallenen Helden

22. Juli 2021, 12:46 Uhr

Der in Rostock geborene Jan Ullrich war einmal ganz oben - als erster und bislang einziger Deutscher gewann er 1997 die Tour de France. Er war ein gesamtdeutscher Sportheld. Heute sorgt er vor allem mit seinen Eskapaden für Schlagzeilen. Er soll beim Schauspieler Til Schweiger randaliert, in Frankfurt eine Prostiutierte gewürgt und seit Jahren ein massives Alkohol- und Drogenproblem haben.

Wie konnte es soweit kommen mit einem Rostocker Jungen aus einfachen Verhältnissen, der durch die DDR-Sportförderung geformt wurde? In der ihn freilich auch niemand auf die Mechanismen der Heldenverehrung in der kapitalistischen Gesellschaft vorbereitet hat: dass die, die hoch steigen, bejubelt werden. Und Häme erfahren, wenn sie fallen.

Aufstieg in der DDR 

Jan Ullrich stammt aus einfachen Verhältnissen. Am 2. Dezember 1973 wird er in Rostock geboren. Er ist das zweite Kind der Studentin Marianne und des Betonarbeiters Werner Ullrich. Als Jan sechs ist, lässt der Vater die Familie sitzen. Die Mutter geht arbeiten, um die Kinder zu ernähren. Geld ist knapp. "Zuhause musste jeder anpacken", erinnert sie sich später. "Jan murrte nie." Als Neunjähriger gewinnt Jan Ullrich 1983 sein erstes Rennen, auf einem geliehenen Rad in Turnschuhen. Radfahren ist fortan sein Lebensinhalt. Sein Freund und Trainingskamerad André Korff erinnert sich an einen Wettbewerb, der ein Jahr später stattfand: Wer es schaffen würde, am längsten auf seinem Rad zu stehen ohne umzufallen, bekommt eine Tafel Schokolade, verspricht Peter Sager, der Trainer. Während andere schon nach fünf Minuten abbrechen, schafft es Jan Ullrich, damals zehn Jahre alt, eine halbe Stunde. "Der wird mal ein ganz Großer", murmelt Sager und schenkt dem Sieger eine Schachtel Pralinen.

Erfolg durch das DDR-Sportsystem

Als 13-Jähriger kommt der Spartakiadesieger Jan Ullrich auf die Kinder- und Jugendsportschule des SC Dynamo Berlin. 1988 wird er DDR-Jugendmeister auf der Straße. Den Mauerfall verfolgt er im Internat in Berlin-Hohenschönhausen im Fernsehen. Vom Begrüßungsgeld holt er sich ein paar Turnschuhe. Ohne das systematische DDR-Sportsystem hätte er niemals so eine Karriere hinlegen können, erinnert er sich später in einem Interview. Damals war sein Trainer in den Schulen Rostocks unterwegs, um talentierte Jungs für den Radsport zu finden. Und so sei er entdeckt worden. Seine Mutter hätte auch gar nicht das Geld gehabt, um ihm ein Rennrad, Material und Bekleidung zu kaufen.

Auf dem Radsport-Olymp

Peter Becker war an der Kinder- und Jugendsportschule der Trainer von Jan Ullrich. Er nimmt seinen begabten Schützling mit nach Hamburg, zum neugegründeten Team Panasonic Hamburg. 1992 siegt Ullrich bei den Norddeutschen Straßen-Meisterschaften der Amateure, ein Jahr später wird er Straßenweltmeister. 1995 schließt er seinen ersten Profi-Vertrag beim Team Telekom ab. Ein Jahr später folgt der Durchbruch bei der Tour de France. Ullrich fährt an der Seite seines Telekom-Kapitäns Bjarne Ris sensationell auf den zweiten Platz. 1997 ist er auf dem Radsport-Olymp angelangt. Er ließ beim berühmtesten und härtesten Radrennen der Welt das gesamte Feld hinter sich.

Der gesamtdeutsche Sport-Held

Jan Ullrich ist 23 Jahre alt und ein gesamtdeutscher Sportstar. Der Junge aus Rostock hat es geschafft und ist zum Helden einer mittlerweile radsportbegeisterten Nation aufgestiegen. Millionen haben an den Fernsehbildschirmen verfolgt, wie "Ulle" die Berge hinaufgeflogen war. Als er in den Vogesen schwächelt, feuert ihn sein Teamkamerad Udo Bölts mit den legendären Worten an: "Quäl Dich, Du Sau!" Ullrich fachte in Deutschland einen Radsport-Boom an. Er wirkt sympathisch durch seine manchmal unbeholfene Art und die für einen Leistungssportler untypischen Ernährungsweise: Er isst gern Torte und Käsespätzle und trinkt Wein. Die Pfunde speckt er mit Gewaltkuren ab. 1997 wird er zum "Sportler des Jahres" gewählt. Er ist der Liebling der Nation, hat seinen eigenen Trainer, seinen eigenen Mechaniker, seinen eigenen Betreuer, seine eigene Masseurin. Ullrich wird hofiert wie ein König, und er beginnt sich zu fühlen wie ein König. Der Junge aus der Jugendsportschule hat es geschafft, er war im Schlaraffenland angekommen, in einer Welt der Schulterklopfer.

Nur noch zweite Plätze

Die Wiederholung des großen Triumphs ist Jan Ullrich nicht mehr gelungen. 1998 wird er Zweiter bei der Tour de France. Doch vom neuen Radsporthelden will die Nation mehr. Und ist enttäuscht, weil es nicht mehr zum ersten Platz reicht. Als träges Genie wird Jan Ullrich nun wahrgenommen, als ein phlegmatischer Sportler mit Bauchansatz, der sich nicht so quält, wie es nötig wäre. 2000 wird er Olympiasieger im Straßenrennen. Bei der Frankreichrundfahrt jedoch kommt er nicht mehr an Lance Armstrong vorbei. Sieben Mal in Folge, von 1999 bis 2005, entscheidet der Amerikaner die Tour für sich. In einer derart überlegenen Art und Weise, dass der Dopingverdacht immer mitfährt. "Wir waren keine Idioten", so Rudy Pevenage, Ullrichs Betreuer von damals. "Wir kannten Armstrong vor seiner Krebserkrankung. Die Verwandlung nach seiner Rückkehr war unglaublich. Wir haben schnell begriffen, dass es keine Wahl gibt." 

Doping-Skandal

Doch in Deutschland will man damals davon wenig wissen - Nachfragen zu Doping gibt es kaum. Das jähe Ende der Höhenfahrt von Jan Ullrich kommt 2006. Einen Tag vor dem Beginn der Tour de France wird Jan Ullrich von den Organisatoren vom Rennen ausgeschlossen. Ermittlungen des Bundeskriminalamtes haben ergeben: es gibt eine Verbindung zum spanischen Sportmediziner Eufemanio Fuentes. Sichergestellte Blutbeutel werden per DNA-Analyse eindeutig Ullrich zugeordnet. Für die Ermittlungen gegen Ullrich im Zusammenhang mit dem Fuentes-Skandal war die Abteilung "Schwere und Organisierte Kriminalität" des Bundeskriminalamtes zuständig, die mit unglaublichem Aufwand anderthalb Jahre im In- und Ausland fahndete und ihre Ergebnisse schließlich auf 2.219 Seiten zusammentrug. Trotz aller Indizien streitet der Sportler alles ab. Am 26. Februar 2007 gibt der 34-Jährige das Ende seiner Laufbahn als aktiver Radprofi bekannt.

Höllenfahrt im Privatleben

Ullrich zieht in die Schweiz und lässt seine Fans via Homepage an seinem Leben teilhaben. Er steigt sogar wieder aufs Rad - allerdings nur noch bei Jedermann-Rennen und in Trainings-Camps für Hobby-Fahrer, wo er die treuesten der treuen Fans um sich schart. Sie bezahlen ein kleines Vermögen, um ein paar Tage mit dem Helden von einst zusammen zu fahren. Schlagzeilen macht Jan Ullrich fortan fast nur noch durch private Eskapaden. Auto-Unfälle unter Alkoholeinfluss, die Trennung von seiner Frau, die Randale auf dem Grundstück von Til Schweiger, die Gewalt gegen eine Prostituierte.

"Jan kriegt jeden Tag in die Fresse"

Auf die Herausforderungen des Radsports wurde Jan Ullrich auf der Kinder- und Jugendsportschule in der DDR vorbereitet: trainieren, fahren, sich quälen, gewinnen. Oder aber verlieren. 2009, als Ullrich wegen Doping-Missbrauch gesperrt war, besuchte ein Reporter der "Süddeutschen Zeitung" seinen einstigen Trainer Peter Sager in Rostock. Der trainierte im Alter von 67 Jahren immer noch Jugendliche und konstatierte bitter, es sei nicht in Ordnung, wie sein ehemaliger Schützling niedergemacht werde: "Jan kriegt jeden Tag in die Fresse."

Über dieses Thema berichtete der MDR im TV in "MDR um 4" 14.08.2018 | 16:00 Uhr