Eine junge Familie mit einem Kinderwagen überquert die Straße
Auch in der DDR sah das Idealbild einer Familie eher so aus: 2+2. Kinderreiche Familien fielen auch im Sozialismus aus dem gewohnten Rahmen. Bildrechte: imago/Stana

Das Märchen von der sozialistischen Großfamilie Kinderarmut in der DDR

30. Mai 2021, 05:00 Uhr

Armut durfte es im Sozialismus per definitionem nicht geben. Doch es gab sie und sie traf vor allem Kinder mit vielen Geschwistern. Außerdem hatten kinderreiche Familien keinen guten Ruf. Die Führung steuerte mit Vergünstigungen in Millionenhöhe und idyllischen Familienreportagen gegen, doch das Image Kinderreicher blieb: laut, verwahrlost, asozial.

Ines, Ralf-Udo, Marion, Silke, Dirk, Thorsten – die Älteste 18, der Jüngste drei Jahre alt. Alle ordentlich gekleidet, gekämmt, freundlich, gut erzogen. Die Großen helfen im Haushalt, die Kleinen hören beim ersten Wort. Mutter Rita arbeitet neben ihrem Job als Sechsfachmutter noch als Stationsschwester in der Altenpflege, Vater Rolf ist Bestarbeiter und Aktivist in der Karbidfabrik. Die Plattenbau-Wohnung von Familie Sachsenweger aus Halle-Neustadt ist tipptopp in Schuss und glänzt. Kurzum: Die perfekte sozialistische Vorzeigefamilie.

1976 wird die Reportage "Viele Kinder, viele Hände" im DDR-Fernsehen ausgestrahlt. Sie soll zeigen: Kinderreichen Familien geht es gut in der DDR. Von Armut keine Spur. Und asozial sind sie schon gleich gar nicht.

Kinderreiche Familien hatten ein schlechtes Image

Die Reportage ist Teil einer Kampagne der Staatsführung, um das Image von Großfamilien aufzubessern. Denn das war nicht das beste in der DDR, hatten Studien schon Anfang der 60er-Jahre herausgefunden. "Mediziner oder Sozialfürsorgestellen haben in der Zeit wissenschaftliche Artikel geschrieben, die das Phänomen des Kinderreichtums und Armut aufgreifen", sagt Christoph Lorke, Historiker an der Universität Münster, der seine Doktorarbeit über Armut im geteilten Deutschland geschrieben hat.

"Diese Studien gehen aber sehr akademisch an die Sache heran und schauen fast schon mit einer Art bürgerlichem Ekel auf diese Familien. Da geht es viel um Sexualität, Alkoholismus, Verwahrlosung und wie diese Familien von Behörden, der Volkspolizei oder Lehrern etwa gesehen wurden. Also, intern hat man sich schon für diese abgehängten Randgruppen interessiert, aber diese Studien sind dann natürlich ganz schnell im Giftschrank verschwunden." Denn, so sagt Lorke, Sozialismus und Armut, das durfte nicht sein.

Christoph Lorke studierte an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Geschichte, Germanistik, Psychologie und Pädagogik. Seine Dissertation hat er zum Thema "Armut im geteilten Deutschland (1949–1989) verfasst. Er ist seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zu seinen Forschungsgebieten gehören die deutsch-deutsche Geschichte, die Sozial- und Kulturgeschichte von Armut und sozialer Ungleichheit sowie die Geschichte von Interkulturalität und Migration.

Doch Fakt ist: 1966 leben in der DDR 173.800 Familien mit vier oder mehr Kindern; jedes sechste Kind wächst in einer kinderreichen Familie auf – und damit quasi in Armut. Pro Kopf hat eine Großfamilie - laut einem FDGB-Papier, das Lorke bei seinen Recherchen im Bundesarchiv fand - damals weniger als ein Mindestrentner zur Verfügung, also nicht einmal 150 Mark im Monat. Die Parteiführung steuert ab 1967 mit Vergünstigungen gegen.

Der Staat lässt sich die Aufwertung Kinderreicher Millionen kosten

Familie Sachsenweger etwa bekommt Schulbücher umsonst, die Krippe für den Kleinsten ist kostenlos, ebenso die Wäscherei. Sohn Ralf-Udo bekommt für seine letzten zwei Schuljahre 30 Mark Unterstützung pro Monat. Dienstleistungen im Wert von 250 Mark im Jahr werden vom Staat übernommen und der Kredit fürs neue Schlafzimmer in Höhe von 4.000 Mark ist zinsfrei. Die Führung lässt sich die Unterstützung kinderreicher Familien einiges kosten und muss das natürlich in der Öffentlichkeit rechtfertigen.

"Spielfilme oder viele Fernseh- und Radioreportagen zeigen ein auffällig übertrieben positives Bild von diesen Familien in der Zeit. Wunderbare Bilder einer Idylle, in der man ganz nebenbei auf die sekundären Tugenden hinweist: Also, die Küche ist aufgeräumt, das Bett ist gemacht, der Vater ist eben kein Säufer und Schläger, sondern immer gut gekleidet und frisch frisiert und rasiert. Damit wollte man der breiten Öffentlichkeit zeigen: Schaut her, das Geld ist an der richtigen Stelle und die Investition trägt Früchte."

Das stimmt, ist allerdings nicht die volle Wahrheit. Lorkes Forschungen zeigen, die immensen Summen, die in kinderreiche Familien fließen – 1976 sind es immerhin 99 Millionen Mark – helfen, doch sie lassen die Armut nicht gänzlich verschwinden. "Die Forscher haben sich ab Anfang der 1970er-Jahre schon viel Mühe gegeben, die Armut statistisch zu erfassen. Es wurde zum ersten Mal eine Armutsgrenze festgelegt. Wissenschaftler sind von Haus zu Haus gezogen und haben quantitative Erhebungen durchgeführt, wie viele Waschmaschinen es pro 100 Haushalte gibt, wie hoch die Durchschnittslöhne sind usw."

Investitionen helfen, aber Armut bleibt

Eine Erhebung von 1974 zeigt zum Beispiel: Während das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in kinderlosen Haushalten bei 544 Mark liegt, schaffen es kinderreiche Familien gerade einmal auf 247 Mark. Veröffentlicht wird auch das natürlich nicht. "Es hätte viel zu viel kommunikativen Aufwand bedeutet, diese Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen und die Diskussionen im Anschluss auszuhalten. Es ging ja um Gleichheit und Harmonie im Sozialismus. Und so waren solche Forschungen mit höchster Geheimhaltungsstufe belegt."

Die Reportage "Viele Kinder, viele Hände" endet mit einem Familiengrillnachmittag auf dem Dachgarten des Elfgeschossers. Die Kinder hängen Girlanden auf, Mutter Rita deckt den Tisch und lobt die nette Hausgemeinschaft: "Im Haus habe ich keine Probleme. Dass die Leute sagen würden: Oh, da oben wohnen sechs Kinder, mit denen haben wir eine Huddelei. Aber die sagen eher: Mensch, sechs Kinder, aber die hört man gar nicht." Vater Rolf steht im Hintergrund und wendet das Schaschlik, untermalt von den Worten: "Bei uns in der Familie hat jeder seinen Arbeitsbereich. Da geht alles seinen sozialistischen Gang." Harmonie auf der Hollywoodschaukel, ganz im Sinne der Staatsführung.

Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV: MDR Zeitreise: Alles andere als grau - Kindheit in der DDR | 30. Mai 2021 | 22:00 Uhr