Interview Ex-Kruzianer Thomas Nitschke über seine Flucht aus der DDR

28. Juni 2017, 15:02 Uhr

Thomas Nitschke ist als Teenager in den Westen geflüchtet. Zusammen mit zwei Freunden, mit denen er im Dresdner Kreuzchor sang. 1988, während einer Japan-Tournee des berühmten Chores, setzte sich der heute 45-Jährige ab und löste eine deutsch-deutsche Staatsaffäre aus. Wir sprachen mit ihm über die Flucht und seine Erinnerungen.

Herr Nitschke, Sie und Ihre beiden Freunde aus dem Kreuzchor waren 17 Jahre alt, als Sie 1988 während einer Japan-Tournee in den Westen geflüchtet sind. Was trieb Sie in diesem Alter dazu, alles hinter sich zu lassen?

Ich bin freiheitsliebend und ich mag es nicht, wenn man mir Vorschriften macht. Ich will entscheiden, was ich mache, wohin ich gehe, wohin ich in den Urlaub fahre. Und das war natürlich damals in der DDR einfach nicht der Fall. Egal, was man machen wollte. Es gab viele Hürden und Hindernisse zu überwinden. Ich wollte damals Medizin studieren. Und das sah nicht gut aus. Ja, und ich bin auch abenteuerlustig. Deswegen habe ich mir gedacht, den Schritt gehst du.

Ihr Ausgangspunkt für die Flucht war nicht sehr naheliegend. Der Kreuzchor fuhr ja auch in die Bundesrepublik oder in die Schweiz. Warum ausgerechnet Japan?

Es gab einen ganz konkreten Auslöser kurz vor der Reise, weshalb es dann Japan wurde, dieser ungewöhnliche Fluchtort. Die damalige Leiterin der schulischen Seite des Chores kam auf mich zu und meinte, sie müsste mit mir über meine Kaderakte reden. Und man munkelte damals, dass Kruzianer schon angeworben wurden von der Stasi. Und genau das habe ich dann befürchtet, dass man mich anwerben will.

Drei Jungen, ein Plan. Gab es noch jemanden, den Sie eingeweiht hatten?

Also ganz sang- und klanglos zu verschwinden, das habe ich nicht fertig gebracht. Wir mussten ja davon ausgehen, dass wir vielleicht 10 oder 20 Jahre Familie und Freunde nicht mehr sehen. Also, meine Eltern waren eingeweiht. Wir sind dann aus Angst vor Abhöraktionen in Wälder gefahren und haben zu Hause nur noch Zettel geschrieben, wenn es um meine Fluchtpläne ging, damit niemand etwas mitbekommt. Vor der Reise gab es noch ein Konzert in Dresden. Ich habe mich dann schon zu Hause von meiner Mutter verabschiedet. Sie hat gesagt, sie kommt nicht mit nach Dresden, weil das könnte auffällig sein, wenn sie dann in Tränen ausbricht. Deshalb hat mich mein Vater nach Dresden gefahren. Die Verabschiedung war sehr emotional. Und auch bei dem Konzert habe ich nicht besonders viele schöne Töne herausgebracht, weil ich einen großen Kloß im Hals hatte.

Hatte sich Ihre Aufregung gelegt, als Sie im Flieger Richtung Japan saßen?

An dem Abend, bevor wir abgeflogen sind, habe ich Blinddarmschmerzen bekommen. Das hatte ich vorher schon ein paar Mal. Und jetzt musste ich abwägen, was mache ich denn jetzt? Zwölf Stunden Flug! Soviel war mir schon bewusst, dass das nicht ungefährlich war, dass so ein gereizter Blinddarm ja auch mal platzen kann. Auf der anderen Seite war mir klar, wenn die anderen Beiden abhauen und im Westen bleiben, dann gibt es keine Reise mehr. Das hätte für mich bedeutet, dass es das war und ich nicht mehr rausgekommen wäre. Insofern war das gar nicht so einfach zu entscheiden, was ich jetzt mache. Ich konnte meine Koffer schon gar nicht mehr selber zum Flugzeug tragen. Die anderen haben sie getragen. Nach dem Start habe ich dann mitgeteilt, dass ich starke Schmerzen habe. Ich bin dann direkt in Tokio für eine Woche ins Krankenhaus gekommen und hing dann am Tropf. Gott sei dank beruhigte sich mein Blinddarm.

Sie hatten ja als Kruzianer das Privileg, schon als DDR-Kind in den Westen zu fahren. War Japan für Sie trotzdem etwas Besonderes?

Das war ein Kulturschock, diese Unterschiede zu sehen. Japan war für mich bis dahin Pagodendächer und Kaiserpalast. Aber es war einfach unglaublich quirlig, lebendig, sehr viel Beton, sehr viel Werbung, bunt, laut. Das war natürlich ein Riesenunterschied zur DDR und auch aufregend. Wir wollten eigentlich die Reise vom ersten bis zum letzten Tag mitmachen und uns erst am Schluss absetzen, aber es kam dann anders. Es gab merkwürdige Sonderproben, die Stimmung war nicht besonders gut. Vermutlich hat man gedacht, in Japan wird niemand die Flucht ergreifen und insofern hat man nicht darauf geachtet. Und dann haben wir beschlossen, es sofort zu tun. Ich war dann ein paar Tage aus dem Krankenhaus raus, und dann haben wir den Schritt gemacht. Wir sind dann in die westdeutsche Botschaft gegangen, haben angeklopft und gesagt: Hier sind wir. Die haben uns dann die Tickets gekauft, und wir sind nach Frankfurt am Main geflogen.

Ihre Flucht kam dann sogar in den DDR-Hauptnachrichten zur besten Sendezeit? Wie haben Sie das wahrgenommen?

Ja, der mediale Aufschrei in der DDR war recht groß. Sowohl im Osten als auch im Westen waren wir regelmäßig in den Nachrichten. Die "Bild"-Zeitung war uns auf den Fersen, es gab dann Anfragen von Radiosendern und Zeitschriften. Interviews, eine große Pressekonferenz. Ja, das hat uns schon überrascht in dem Ausmaß, aber es war natürlich auch spannend. Mit 17 Jahren hat es natürlich auch Spaß gemacht, so im Mittelpunkt zu stehen.

Sie haben dann beim Windsbacher Knabenchor gesungen. Die DDR sprach von gezielter Abwerbung. War das völlig aus der Luft gegriffen?

Drei 17-jährige Tenöre fliehen über Japan. Das waren die Schlagzeilen. Und die DDR wollte das nicht auf sich sitzen lassen und das dem Westen in die Schuhe schieben. Da schalteten sich die höchsten Regierungskreise ein. Aber das war ganz allein unsere Initiative. Es gab keinerlei Abwerbung. Es war sogar eher so, als wir beim Windsbacher Knabenchor anriefen, dass die Begeisterung nicht so besonders groß war über unsere Ankunft. Weil die sich auch gedacht haben, dass es durchaus Ärger gibt aufgrund des medialen Interesses.

Sie sind Ende 1988 geflohen, ein Jahr später war die Mauer Geschichte. War der Skandal um Ihre Flucht vielleicht schon ein Symptom für das nahe Ende der DDR?

Das ist immer schwer zu sagen. Aber es kann natürlich schon sein, dass es ein kleines Steinchen war, das dazu beigetragen hat, das Ganze doch ins Rollen zu bringen. Unsere Geschichte kam im Osten ganz anders an, als die Staatsführung das beabsichtigt hatte. So nach dem Motto: Mensch, die drei 17-Jährigen, warum machen die das, machen die das vielleicht richtig? Das so etwas so einen Prozess mit anstößt, das kann durchaus sein.

Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV: MDR Zeitreise | 27.06.2017 | 21:15 Uhr