Göring, Hess, Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner, Dönitz, Räder, Schirach and Sauckel im Gerichssaal in Nürnberg, 1946
Die Nürnberger Prozesse 1946 waren Auftakt der Entnazifizierung, welche in der DDR zwei Jahre später als beendet erklärt wurde. Bildrechte: IMAGO / ZUMA/Keystone

Ein Spiel mit Halbwahrheiten Von wegen Entnazifizierung: Nazi-Karrieren in der DDR

17. Januar 2022, 17:28 Uhr

1948 wurde die Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone offiziell beendet. Zu den neueren Mythen zählt die scheinbare Gewissheit, dass die DDR alle Nazis in ihrem Land konsequent aufgespürt und einer gerechten Strafe zugeführt hatte. Eine Legende, die zum antifaschistischen Selbstverständnis der DDR passte und durchaus bewusst etabliert wurde. Entnazifizierung in der DDR - ein Spiel mit Halbwahrheiten.

2015 begann vorm Landgericht Neubrandenburg das Verfahren gegen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher Hubert Z. Er wurde wegen Beihilfe zum Mord in über 3.600 Fällen angeklagt. In der DDR hatte er ein unbehelligtes Leben führen können – und das obwohl die Staatssicherheit über seine Tätigkeiten als SS-Mann in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern im Bilde war. Hubert Z. ist kein Einzelfall. Auch in der DDR war es möglich, als ehemaliger NS-Täter seine Nische in der Gesellschaft zu finden.

Willkür und Härte: Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR

1945 war die Entnazifizierung des öffentlichen Lebens von den Alliierten auf der Potsdamer Konferenz vereinbart worden. In der Sowjetischen Besatzungszone wurde diese besonders rigoros betrieben. Insgesamt wurden bis zu 80.000 Deutsche vom Sowjetischen Militärtribunal zu langjährigen Zuchthausstrafen oder gar zum Tode verurteilt – jedoch nach äußerst willkürlichen Kriterien und oft ohne fundierte Beweislage. 1948 galt die Entnazifizierung als abgeschlossen, jedoch waren die sowjetischen Speziallager noch voller Häftlinge. Offziell waren es "NS-Verbrecher", eine individuelle Schuld wurde jedoch nie festgestellt. Die Aburteilung der verbliebenen Häftlinge wurde der DDR-Justiz übergeben und gipfelte in den Waldheimer Prozessen, die unter großem Zeitdruck und mit zum Teil stalinistischen Methoden durchgeführt wurden.

DDR: Phasenweise mehr Entnazifizierung als BRD

In publikumswirksamen Schauprozessen wurden mehr oder minder NS-Belastete vorgeführt und abgeurteilt. Jedoch weiß man heute, dass sich unter den hart bestraften Verurteilten zahlreiche Mitläufer und sogar Unschuldige befanden. Dennoch: Die DDR hat in dieser Phase erwiesenermaßen mehr NS-Verbrecher zu Recht verurteilt, als es die Bundesrepublik getan hat. Die Entnazifizierung von Polizei, Justiz und innerer Verwaltung wurde sehr erfolgreich betrieben. Das wusste die DDR im Kalten Krieg auch zu nutzen. In zahlreichen Kampagnen gegen die Bundesrepublik wurde genau dieses Wissen ausgenutzt, um zu diffamieren, aufzudecken und sich letztlich als den besseren der beiden deutschen Staaten zu präsentieren. Aber was ist dran am "besseren Deutschland" DDR? Wie ernst wurde der antifaschistische Anspruch bei der juristischen Strafverfolgung von NS-Tätern in der DDR genommen?

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Staatsdoktrin Antifaschismus

Seit im Oktober 1949 die Deutsche Demokratische Republik gegründet wurde, galt der Antifaschismus als eine der Hauptsäulen der Staatsideologie. Bei jeder Gelegenheit wurde er nach außen wie nach innen propagiert: fand sich als Parole auf Bannern bei großen Paraden wieder, war Thema in Filmen und Literatur der DDR, wurde von Kindesbeinen an als höchstes Gut des Staates vermittelt. In Schulen und Betrieben erinnerten antifaschistische Traditionskabinette mit Urkunden, Fotos und Medaillen an die "verdienten antifaschistischen Kämpfer". Der Antifaschismus war für viele Bürger der DDR eine Selbstverständlichkeit, eine Haltung, keine Pflicht. Das galt im Besonderen für die Kriegsgeneration, die mit Überzeugung sagte: "Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus."

Dennoch: In der DDR herrschte ein großer Unterschied zwischen politischem Anspruch und Wirklichkeit. Der Antifaschismus war auch Kalkül – diente der SED zur Machtsicherung und für die Rechtfertigung zahlreicher staatlicher Entscheidungen, so z.B. 1961 für den Bau der Mauer, dem "antifaschistischem Schutzwall". Zudem wollte sich die DDR von der Bundesrepublik als "imperialistisch-kapitalistischem" Nachfolger des Dritten Reiches abgrenzen, mehr noch: diesem Teil Deutschlands die Hauptschuld am Nationalsozialismus zuweisen. Auch wenn in vielen Fällen berechtigterweise die NS-Vergangenheit westdeutscher Funktionäre durch DDR-Aufdeckungsmanöver ans Licht kam, so vergaß, oder besser verdrängte es die DDR-Staatsführung, vor der eigenen Tür zu kehren. Den DDR-Bürgern wurde pauschal Absolution erteilt, die Schuldfrage nicht gestellt, wenn sie sich im Gegenzug dem Sozialismus zuwendeten und den Aufbau der "frohen, friedlichen Zukunft" tatkräftig unterstützten. Und das, obwohl auch die DDR-Gesellschaft zu einem erheblichen Teil aus NS-Mitläufern und Tätern bestand – auch in führenden Positionen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.

Herrschaftswissen: NS-Vergangenheit

Dem Ministerium für Staatssicherheit kam in der NS-Vergangenheitsbewältigung eine besondere Rolle zu. Die Abteilung IX/11 des MfS, untergebracht in einer Villa in Hohenschönhausen, beherbergte – streng geheim und von der Außenwelt abgeschottet – das sogenannte "Nazi-Archiv": elf Kilometer Akten aus NS-Beständen. Einerseits wurden diese Dokumente gesammelt, um Kampagnen gegen braune Eliten in der Bundesrepublik zu starten, andererseits aber auch, um Strafverfahren im eigenen Land zu vereiteln. Die Akten belegen, dass in der DDR lebende NS-Täter nicht zwangsläufig vor Gericht gebracht wurden und dass systematisch ehemalige NSDAP-Mitglieder, aber auch schwer belastete NS-Verbrecher als IM angeworben wurden – und zwar in Ost und West. Die "Infiltration" von Nazi-Kreisen diente als Stasi-interne Legitimation dieser Anwerbungen. De facto aber spielte das nur bei einer geringfügigen Minderheit eine Rolle. Die meisten angeworbenen IM mit Nazi-Vergangenheit halfen schon aus Angst, sich selbst zu belasten, keineswegs bei der Aufklärung von NS-Verbrechen oder der Enttarnung bisher unbekannter Täter.  

Stille Integration: NSDAP-Mitglieder füllen die Reihen der SED

Die SED hatte 1948 auf Empfehlung Stalins nicht nur die Initiative zur Gründung der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) als Auffangbecken für "geläuterte" NS-Kader und Wehrmachtssoldaten ergriffen, sondern auch selbst in großem Stil ehemalige NSDAP-Mitglieder und andere NS-Belastete in ihren Reihen aufgenommen. Bereits 1946 hatte die SED die Aufnahmekriterien für diese Klientel offiziell vereinfacht. In dieser Zeit lag der Anteil an ehemaligen NSDAP-Mitgliedern bei acht bis zehn Prozent aller SED-Genossen. Die SED führte in ihren Kaderakten genaue Listen über ehemalige Zugehörigkeit ihrer Mitglieder zur NSDAP bzw. deren Suborganisationen. Nach außen jedoch wurde die braune Vergangenheit belasteter SED-Mitglieder nicht publik, oft sogar bewusst verschleiert.

Euthanasie-Ärzte im Dienste der DDR

Die Präsenz einstiger NSDAP-Mitglieder in der neuen Staatspartei SED war nur die Spitze des Eisbergs. In vielen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere dort, wo fachliche Qualifikationen gefragt und die Konkurrenz zum Westen hoch war, schaute man nicht auf die Vergangenheit und ließ eine hohe Konzentration einstiger NSDAP-Mitglieder zu. Besonders verwerflich erscheint heute, dass es im Gesundheitswesen der DDR zahlreiche ehemalige NS-Ärzte, die an Euthanasie-Verbrechen beteiligt gewesen waren, weiterarbeiten konnten. Sogar Leitungspositionen und Professorenstellen waren möglich. Auch hier gingen politische Überlegungen vor juristische Erwägungen.

In Thüringen gibt es in diesem Zusammenhang erschütternde Fälle. So konnte nach dem Krieg beispielsweise der Chef der Universitätskinderklinik in Jena, Jussuf Ibrahim, seine Karriere fortsetzen, obwohl er zu den schwerbelasteten NS-Medizinern gehörte und seit 1942 regelmäßig behinderte Kinder in den Tod geschickt hatte. Ein weiteres Euthanasie-Zentrum in Thüringen war die Landesheilanstalt Stadtroda. Nach Kriegsende wurden beteiligte Ärzte und das Pflegepersonal strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen, obwohl bis 1948 die lokale Kriminalpolizei und das MfS wegen Euthanasie-Verbrechen hier ermittelte und umfangreiches belastendes Material sicherstellte. Auf höchster Ebene riet das MfS von der juristischen Verfolgung der belasteten, aber inzwischen integrierten Mediziner ab, um die antifaschistische Identität der DDR nicht in Frage zu stellen.

Namensschild der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin - Jussuf Ibrahim - in Jena
Ein Nazi-Arzt als Namenspatron? Bis Mitte 2000 war eine Klinik der Universität Jena nach Jussuf Ibrahim benannt. Bildrechte: imago/Busse

Ein besonders prominentes Beispiel ist Medizinprofessorin Rosemarie Albrecht, spätere DDR-Nationalpreisträgerin und "verdiente Ärztin des Volkes": Trotz Wissens um ihre NS-Vergangenheit als Assistenzärztin und spätere Stationsleiterin der Frauen- und Nervenklinik Stadtroda, wurde sie zu DDR-Zeiten nicht vor Gericht gebracht. Ein Ermittlungsverfahren gegen sie im Jahr 2000 wurde wegen ihres schlechten Gesundheitszustands eigenstellt. Ähnliche Fälle gibt es auch in Sachsen, wo die Universitätskinderklinik Leipzig eine der Euthanasie-Hauptmordanstalten im NS-Staat war. Verantwortliche Ärzte konnten auch hier ihre Karrieren unbehelligt in der DDR fortsetzen.

Die zwei Seiten des Kriegsverbrecherprozess gegen Heinz Barth

Im französischen Oradour ermordeten SS-Truppen 1944 mehr als 600 Menschen. Die juristische Aufarbeitung dieses Verbrechens ließ lang auf sich warten – in Ost wie West. Bis in die 1980er Jahre wurde kein Beteiligter vor ein deutsches Gericht gebracht. Durch Zufall ermittelte die Stasi den ehemaligen SS-Obersturmführer Heinz Barth, der am Massaker beteiligt war. 

Am 25. Mai 1983 wurde unter großer internationaler Aufmerksamkeit in Ost-Berlin der Prozess gegen Heinz Barth eröffnet, am Prozessende stand die Verurteilung zu lebenslanger Haft. Die DDR stilisierte diesen Prozess zum letzten großen Paradebeispiel für die NS-Strafverfolgung in der Deutschen Demokratischen Republik. Doch die DDR-Behörden spielten nicht mit offenen Karten. Im Zuge der Ermittlungen waren zwei Untergebene Barths bekannt geworden, deren Zeugenaussagen nicht nur Barth sondern auch sie selbst belasteten. Dennoch wurde beschlossen, die beiden nicht vor Gericht zu stellen und der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Man fürchtete das negative internationale Echo. Barth konnte man als "bedauerlichen Einzelfall" deklarieren, wie aber mit noch zwei mutmaßlichen Kriegsverbrechern umgehen, die so viele Jahrzehnte in der DDR unentdeckt hatten leben können? Schweigen war das Gebot der Stunde.

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