Über Leipzig nach Auschwitz: Das letzte Lebenszeichen von Martin Kober

15. September 2015, 14:57 Uhr

Über 70 Jahre nach dem Verschwinden Martin Kobers gelang es dem Journalisten Jochen Leibel, die Leidensgeschichte seines Großonkels zu rekonstruieren. Die entscheidenden Hinweise entdeckten Jugendliche des deutsch-französischen Schülerprojektes "Der Brief".

Der gebürtige Leipziger Jochen Leibel wusste so gut wie nichts von seinem Großonkel Martin Kober, der vor dem Zweiten Weltkrieg in der Messestadt ansässig war. Kaufmann soll der gewesen sein und ein Schneidergeschäft geführt haben. Lediglich von einem mysteriösen Brief erfuhr Jochen Leibel von seiner Mutter. Den Krieg und die Judenverfolgung in Leipzig hatte er selbst als Kleinkind, zusammen mit seiner Mutter, nur in einem Versteck überlebt.

Erste Spuren von Martin Kober

Für die Familie gab es keine Hinweise auf den Verbleib des Onkels, der selber keine Nachkommen hatte. Erst als Jochen Leibel 1987 als Journalist in Frankreich vom Kriegsverbrecherprozess gegen Klaus Barbie berichten sollte, ließen ihn die Fragen um seine Geschichte, dem Schicksal seiner Familie und dem spurlosen Verschwinden seines Großonkels Martin nicht mehr los.

Ich habe nie um mein Leben gekämpft. Martin hat, was ich jetzt in den letzten Jahren erfahren habe, von Anfang an um sein Leben kämpfen müssen. Und hat es nicht geschafft.

Jochen Leibel

Es dauerte Jahre, bis er erste Hinweise zum Verbleib Kobers in den Händen hielt. In einer Gedenkstätte in der Nähe von Paris entdeckte er zufällig den Namen seines Onkels unter den tausenden Opfern. Nun hatte er die Gewissheit, dass sein Großonkel ein Opfer des Holocaust geworden war. Offen blieb aber, wie Martin Kober nach Frankreich gekommen war. Was war mit ihm geschehen und was hatte der ominöse Brief zu bedeuten, von dem seine Mutter ihm erzählt hatte?

Deutsch-französisches Schülerprojekt "Der Brief"

Gewissheit über den Leidensweg seines Onkels erlangte Jochen Leibel durch ein großangelegtes deutsch-französisches Schülerprojekt, an dem Jugendliche aus Leipzig und Lyon beteiligt waren. Sie erforschten dieses dunkle Kapitel deutsch-französischer Geschichte und konnte so auch dem verschwundenen Martin Kober wieder eine Identität geben. Die Schüler konnten die Lücken zwischen den Stationen Leipzig, Paris und Auschwitz durch ihre Recherchen in Deutschland und Frankreich schließen. Mark Tippmann, Schüler am Reclam-Gymnasium Leipzig, war an dem Projekt beteiligt.

Wir waren ja an historischen Plätzen, konnten uns richtig in die Geschichte hineinversetzen. Das ist etwas ganz anderes, als wenn man im Geschichtszimmer sitzt.

Mark Tippmann, Reclam-Gymnasium Leipzig

Gemeinsam fanden die Schüler heraus, dass Kober vor der Judenverfolgung aus Leipzig geflohen war. Seine erste Station war die Schweiz und sein Ziel wohl die Emigration nach Amerika. So ging sein Weg weiter in das noch nicht besetzte Belgien, von wo er die große Reise über den Atlantik antreten wollte. Der Einmarsch der Wehrmacht machte Kobers Pläne zunichte: Die belgischen Behörden deportierten ihn in das faschistische Vichy-Frankreich. Kober wurde durch das ganze Land von Lager zu Lager deportiert. Seine letzte Spur in Frankreich fand sich in einem Lager in Dancy, einem Vorort von Paris, den man auch das "Vorzimmer des Todes" nannte. Hier schließt sich die Lücke zu dem Fund seines Großneffen.

Der Brief - das letzte Zeichen

Die letzte große Frage um Martin Kober blieb jedoch offen: Wie kam es zu dem seltsamen Brief und wie gelangte er zu seiner Familie? Die Schüler fanden heraus, dass der Transport über Leipzig, die einstige Heimatstadt Kobers, geführt hat. Hier schrieb er den besagten Brief an seine Nichte, die Mutter von Jochen Leibel. Er hatte den Brief aus dem Waggon Nr. 7 geworfen, in dem er sich befand. Auf den Brief hatte er geschrieben: "Bitte, dass ein gütiger Mensch diesen Brief weiterleitet. Ich habe keine Briefmarke!!!". Es grenzt an ein Wunder, dass der Brief den Weg in die Leipziger Fleischergasse gefunden hat.

Der Transport, in dem sich der damals 52-jährige Kober befand, erreichte am 19. August 1942 Ausschwitz. Hier verliert sich seine Spur endgültig, Martin Kober wurde in Auschwitz ermordet. Sein Großneffe Jochen Leibel hat für ihn in Leipzig einen "Stolperstein" verlegen lassen. Für ihn ist es ein Ort der Erinnerung an seinen Großonkel, der durch die Schüler und ihr großes Engagement nun eine Geschichte bekommen hat.