Prozess um Mauertote Das Politbüro vor Gericht

24. Juni 2021, 13:16 Uhr

Der Protokollführer am Landgericht Berlin schreibt den 13. November 1995 in das Sitzungsprotokoll. Auf der Anklagebank sitzen die einstigen Mitglieder des Politbüros: Egon Krenz, Günter Schabowski und Günther Kleiber müssen sich wegen "Totschlag und Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR" verantworten. Der Politbüroprozess, der die Mitschuld der Männer an den Mauertoten aufklären soll, beginnt und somit auch das wohl bedeutendste Verfahren gegen die Machtzentrale der SED.

"Ich gehe erhobenen Hauptes in den Gerichtssaal: Ich bin kein Totschläger." Diesen Satz sagt Egon Krenz, der letzte Staats- und Parteichef der DDR, vor Beginn des sogenannten Politbüro-Prozesses. Er, SED-Bezirksleitung Günter Schabowski sowie SED-Wirtschaftsexperte Günther Kleiber müssen sich 1997 vor dem Landgericht Berlin wegen der Mauertoten verantworten. Eineinhalb Jahre dauert das Verfahren, in dem sich die ehemaligen Mitglieder des Politbüros u.a. für den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze rechtfertigen müssen. Das Urteil im August 1997 lautet: Sechseinhalb Jahren Haft für Krenz. Je dreieinhalb für Schabowski und Kleiber.

Angeklagt bin ich, weil ich mich bei einer antikapitalistischen Alternative auf deutschem Boden beteiligt habe.

Egon Krenz Landgericht Berlin 1997

916 Mauertote bis zur Wende

Der Prozess gegen die drei Politiker ist eines von insgesamt 101 Verfahren, in denen es um die Verantwortlichkeiten beim Tod von Republikflüchtigen geht. 78 Mauerschützen und ihre Vorgesetzen werden im Laufe der 90er-Jahre rechtskräftig verurteilt. 916 Mauertote verzeichnet Deutschland bis zum Fall der Berliner Mauer 1989. Menschen, die den Selbstschussanlagen, Mienen und bewaffneten Soldaten rund um den "Antifaschistischen Schutzwall" zum Opfer fielen.

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Die Familien der Mauertoten hoffen nach der Wende auf Gerechtigkeit - doch auch nach den Mauerschützenprozessen finden sie keinen Frieden ...

MDR FERNSEHEN Do 21.05.2009 22:05Uhr 01:25 min

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Wegen Fluchtgefahr: Egon Krenz wird direkt verhaftet

Im August 1997 urteilt das Landgericht Berlin dann: Es handelt sich bei den 916 Opfern um "Totschlag in mittelschweren Fällen". Noch im Gerichtssaal wird Egon Krenz verhaftet. Wegen bestehender Fluchtgefahr, heißt es seitens des Gerichts. Schabowski und Kleiber bleiben auf freiem Fuß und gehen gemeinsam mit Krenz in Revision. Zwei Jahre später bekräftigt der Bundesgerichtshof in Leipzig das Urteil aus Berlin von 1997: Die Haftstrafe bleibt. Die drei ehemaligen Politbüro-Mitglieder treten ihre Haft nach Bestätigung durch den Bundesgerichtshof Ende 1999/Anfang 2000 an.

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Im Machtzentrum der Entscheidung

Vor laufenden Kameras sagt Krenz noch im Gerichtssaal: "Ich habe immer gesagt, jeder Tote ist einer zu viel – und das ist auch heute meine Meinung. Aber ich bin nicht dafür verantwortlich, dass Deutschland gespalten wurde. Und ich bin auch nicht dafür verantwortlich, dass der Eiserne Vorhang über Europa niederging und ich bin auch nicht dafür verantwortlich, dass beide deutsche Staaten im bittersten Kalten Krieg standen." Das Gericht spricht den drei Männern volle Verantwortung zu. Als ehemalige Mitglieder des Politbüros hätten sie im Machtzentrum der Entscheidungen gestanden und den, als Klassenauftrag verkauften Schießbefehl, direkt mit zu verantworten.

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