Versandhandel im Kalten Krieg West-Kataloge voller Ost-Produkte

23. November 2018, 08:15 Uhr

Der Versandhändler Otto hat Ende 2018 zum letzten Mal einen Katalog drucken lassen. Damit ging eine Ära zu Ende, denn Versandhauskataloge waren im analogen Zeitalter so etwas wie heutzutage Amazon, eBay, Zalando und Co. Ihren Erfolg verdankten die Versandhäuser günstiger Ware in Topqualität. Dass viele dieser Produkte aus der DDR stammten, ahnten die westdeutschen Käufer meist nicht. Otto, Quelle, Ikea und viele weitere Unternehmen ließen im Billiglohnland DDR produzieren. Klassenkampf hin oder her - um an Devisen zu kommen, ließ sich die DDR gerne als verlängerte Werkbank des Westens einspannen.

"Ein Privileg für alle" – mit diesem Slogan warb das Versandhaus Quelle für seine Produkte der Eigenmarke "Privileg". Haartrockner, Kühlschränke, kleinere Haushaltsgeräte, Näh- oder Schreibmaschinen von Privileg gab es in guter Qualität zu niedrigem Preis.

Und tatsächlich: Privileg-Produkte gab es wirklich für alle, sogar für DDR-Bürger. Denn auch hier wurden die Elektroartikel verkauft – nur dass sie nicht so hießen und zu stattlicheren Preisen angeboten wurden. Die Schreibmaschine des Typs "Privileg electronic 1400" war nichts anderes als die ostdeutsche "Erika electronic S3006". 1989 gab es die für 3.200 DDR-Mark zu kaufen. Was in der DDR kaum erschwinglich schien, war in Westdeutschland aber ein Schnäppchen: In der DDR produzierte Ware waren zehn bis 15 Prozent günstiger als diejenigen aus dem Westen.

Die Erfolgsgeschichte des Versandhauses Quelle steht exemplarisch für die wirtschaftliche Verflechtung zwischen westdeutschen Unternehmen und dem Billiglohnland DDR. Eine Kooperation, von der die westdeutschen Kunden nichts ahnten und dessen Ausmaß sich auch die ostdeutschen Angestellten in den volkseigenen Betrieben und Kombinaten nicht vorstellen konnten.

Quelle wird mit DDR-Produkten zum Branchenführer

Gustav Schickedanz (1895-1977) gründete am 26. Oktober 1927 im fränkischen Fürth die Quelle GmbH. Ab den 1950er-Jahren boomte das Versandgeschäft. Goldene Jahre auch für Schickedanz, der gemeinsam mit seiner Frau Grete Quelle zum europaweiten Branchenführer ausbaute. 1974 beschäftigte er 36.000 Mitarbeiter und machte einen Umsatz von 6,4 Milliarden D-Mark.

Der Aufstieg von Quelle hatte auch mit den Produkten aus dem Osten zu tun. Willi Harrer, seit 1965 in unterschiedlichen Führungspositionen bei Quelle tätig, vertrat die Quelle Schickedanz AG von 1998 bis 2000 als Vorstandsvorsitzender. Mit dem MDR sprach er offen über die Zusammenarbeit.

Die Quelle hat Querbeet in der damaligen DDR eingekauft, das ging von Haus- und Heimtextilien, über Kinderkonfektion, Damenkonfektion, Herrenkonfektion, aber auch über Möbel, bis hin zu Elektrokleingeräten.

Willi Harrer, ehemaliger Quelle-Manager

Seit 1964 wurden elektronische Artikel von den DDR-Kombinaten Robotron, RFT, Mikroelektronik Erfurt oder Carl Zeiss Jena im Westen unter der Marke "Privileg" verkauft. Auch Möbel und Kleidung, die über den Quelle-Katalog bestellt werden konnten, kamen aus der DDR.

50 Prozent der DDR-Exportware gingen in die BRD

Laut offiziellen Zahlen, die die DDR veröffentlichte, gingen 30 Prozent ihres gesamten Außenhandels nach Westdeutschland. Berücksichtigt man Informationen westdeutscher Firmen, so betrug der Export wohl sogar 50 Prozent. Während in der DDR immer mehr Beschwerden über Mängel an den eigenen Erzeugnissen laut wurden, stimmte die Qualität bei den Produkten, die ins Nachbarland verschickt wurden. Im Jahr 1985 kaufte Quelle für 29,2 Millionen D-Mark bei ostdeutschen Betrieben ein.

"Bei uns hat das Institut für Qualitätssicherung aus jeder Sendung nach Stichprobeverfahren Qualitätsprüfungen vorgenommen. Die Ware aus der DDR wurde eigentlich kaum beanstandet", erinnert sich Harrer. "Es war hervorragende handwerkliche Qualität. Näharbeiten waren ohne jegliche Reklamation. Wir gehen davon aus, dass die Verantwortlichen in der DDR Einzelprüfungen der Artikel vorgenommen haben, und die Ware das Kombinat erst verlassen durfte, wenn festgestellt war, dass sie einwandfrei ist."

Nur wissen sollten die Kunden nicht, woher diese "einwandfreie" Ware stammte. Man befürchtete, dass es Vorbehalte gegenüber den Ost-Erzeugnissen geben könnte oder dass die Westdeutschen mit ihrem Kauf die DDR nicht unterstützen wollten.

Westdeutsche Firmen rissen sich um DDR-Produkte

Doch freilich profitierte nicht nur Quelle vom Billiglohnland DDR. Insgesamt bezogen wohl 6.000 westdeutsche Firmen ihre Produkte aus dem Osten. Darunter Salamander, Schiesser, Adidas und Bosch. Auch der Beiersdorfer Verkaufschlager, die "Nivea Creme", wurde in der DDR hergestellt.

Die Kooperation zwischen West und Ost sah indes nicht nur so aus, dass Westunternehmer fertige Produkte aus dem Osten einfach abkauften. Der Deal der sogenannten "Gestattungsproduktion" ging darüber hinaus. Unternehmer aus dem Westen gaben ihre Wünsche in Auftrag, dann wurde produziert. Nur ein kleiner Teil der so entstandenen Waren musste in der DDR bleiben. Diese wurden dann vor allem in den teuren Delikat- und Exquisit-Läden verkauft.

Vorwurf: Quelle soll von Zwangsarbeit in der DDR gewusst haben

Quelle wurde verstärkt im Jahr 2012 vorgeworfen, nicht nur von den Dumpinglöhnen in der DDR Profit gemacht zu haben. Zwangsarbeiter aus den DDR-Gefängnissen sollen Opferverbänden zufolge an der Herstellung von Produkten für Quelle und andere westliche Firmen beteiligt gewesen sein - denn auch AEG, Karstadt, Neckermann und Ikea mussten sich diesem Vorwurf stellen.

Die Quelle-Verantwortlichen sollen bewusst weggeschaut haben. So nähten in den 80er-Jahren Zwangsarbeiterinnen aus dem Frauengefängnis Hoheneck Briefe in die Quelle-Bettwäsche ein. Kunden entdeckten diese Nachrichten. Außerdem sollen Strafgefangene in Staßfurt für Quelle unter der Marke "Universium" Fernsehgeräte hergestellt haben. Häftlinge wurden damals mit Zwangsarbeit ausgebeutet und mussten unter schweren Bedingungen arbeiten.

Quelle ging 2009 jedoch nicht wegen des Zwangsarbeiter-Skandals zugrunde. Der Versandhandel boomt heute zwar mehr denn je, doch davon profitierten nicht die alten Hasen des Versandgeschäfts, die einst mit dicken Papier-Katalogen ihren Aufstieg schafften, sondern Online-Händler. Die Quelle-Eigenmarke "Privileg" ging 2010 an das US-amerikanische Unternehmen "Whirlpool". Dort werden wieder Haushaltsgeräte unter dem Namen "Privileg" produziert. Und damit gibt es heute weiterhin "Ein Privileg für alle" - auch ohne getauschtes Markenschild und zu gleichem Preis.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise - Falsche Urteile, harte Zwangsarbeit: Das Schicksal von Strafgefangenen in der DDR | 14. März 2021 | 22:30 Uhr