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Eure GeschichteWohnungswirtschaft und Städtebau nach 1990

06. Oktober 2023, 21:25 Uhr

"Wohnen muss als öffentliche Daseinsvorsorge, als öffentliche Aufgabe die Bedürfnisse von Menschen erfüllen und nicht in erster Linie Geld erwirtschaften", ließ Roman Grabolle vom Netzwerk "Leipzig – eine Stadt für alle" verkünden. Wie sah es mit Wohnungswirtschaft und dem Städtebau nach 1990 aus? Dies wird anhand des Projektes "Netzwerk Leipzig - eine Stadt für alle" gezeigt.

Die DDR hatte (nach offiziellen Angaben) 1989 rund 17 Mio. Einwohner. Im Jahr 2020 lebten in den fünf ostdeutschen Ländern (ohne Berlin) rund 12,6 Mio. Menschen. Nach den Ereignissen von 1989 hatten diese Gebiete einem Bevölkerungsrückgang von bis zu 23,2 Prozent (Sachsen-Anhalt) zu verkraften.

Die westlichen Bundesländer profitierten in dieser Zeit von den vorrangig jungen und bereits ausgebildeten Menschen. Eine weitere, sich nun verschärfende Tendenz war die Abwanderung dieser sozialen Gruppe aus den ländlichen und peripheren Räumen in die wenigen Großstädte in Ostdeutschland, meist die ehemaligen Bezirksstädte. Neben dem ewigen Magnet Berlin waren dies vor allem Erfurt, Dresden und die "Boomtown" Leipzig.

Leerstand überall im Osten

Sowohl die Großstädte als auch der ländliche Raum hatten in den folgenden Jahren mit dem zunehmenden Leerstand in den "geliebten"/"verhassten" Plattenbausiedlungen an den Rändern der Kommunen zu kämpfen. Annähernd 2,5 Mio. Wohnungen waren bis 1989 auf der Basis des sozialen Wohnungsbauprogrammes der SED von 1973 in der gesamten Republik gebaut worden.

Auch die Sanierung von Altbausubstanz (vorrangig in den Bezirksstädten) war seit Beginn der 1980er-Jahre in Angriff genommen worden, blieb aber zunehmend hinter dem Bau neuer Wohnungen zurück.

Modernisierte Städte in der DDR?

Dennoch ist im Geschichtslehrbuch der DDR (Volk und Wissen, Ausgabe von 1989) von "gut 91.000 modernisierten Wohnungen" in den Innenstädten zu lesen. Des Weiteren wird auf die Rekonstruktion und den Wiederaufbau solch prestigeträchtiger Kulturbauten wie der Wartburg in Eisenach, der Semperoper in Dresden, des Berliner Nicolai-Viertels als auch auf die Restaurierung und Modernisierung des Stadtzentrums von Gera verwiesen.

Die Semperoper in Dresden. Im Jahr gibt es etwa 270 Vorstellungen. Rund 800 Mitarbeiter arbeiten direkt oder indirekt an der Semperoper. Bildrechte: MDR JUMP

Wie ging es nach der Vereinigung weiter?

Nach der Vereinigung von BRD und DDR musste der sozialistische Wohnungsbau in die soziale Marktwirtschaft überführt werden. An dieser Stelle traten die großen Unterschiede im Eigentumsverständnis der beiden Systeme in besonders deutlicher Form zu Tage und führten zu Entwicklungen, die Städteplaner und Investoren bis heute vor große Herausforderungen stellen und im Stadtbild vieler ostdeutscher Kommunen für „Schandflecke“ verantwortlich sind.

In der DDR gab es im Wesentlichen drei Formen von Wohneigentum:

  • den staatlichen,
  • den genossenschaftlichen und
  • den privaten Sektor.

Der Anteil an Privateigentum von Wohnungen und/oder Häusern lag zum Ende der DDR weit unter 10 Prozent. Der größere Teil davon waren selbstgenutzte Ein- und Zweifamilienhäuser oder vererbter Wohnbesitz aus der Zeit vor 1939.

Ein fünfgeschossiger Plattenbau in Erfurt-Herrenberg. Bildrechte: MDR/Michael Frömmert

Genossenschaften im Wohnungsbau

Die wichtigsten Genossenschaftstypen waren die AWG (Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaften) und die GWG (Gemeinnützige sozialistische Wohnungsbaugenossenschaft). Sie verwalteten rund 1,1 Mio. Wohnungen. Der übergroße Teil des Wohnraums, der Deutsche Bundestag geht 2007 in einem Bericht dazu von knapp 3 Mio. Wohnungen aus, befand sich in den Händen der Kommunalen Wohnungsverwaltungen und damit de facto in Staatseigentum.

Das im Einigungsvertrag festgeschriebene Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" führte auf Grund einer weiteren Besonderheit in der Eigentumsfrage der DDR zu Konflikten. Die DDR hatte zwar die private Bebauung von Grund und Boden zugelassen, die Eintragung in die Grundbücher allerdings vernachlässigt bzw. bewusst verhindert.

Als Folge dieser Politik kam es nach 1990 oft genug zu der skurrilen Situation, dass Hausbesitzer in den neuen Bundesländern sich mit Forderungen der westdeutschen Grundstückseigentümer konfrontiert sahen. Doch auch die Wohnungsgenossenschaften sahen sich enormen "Restitutionsansprüchen" ausgesetzt.

Zugzwang der Politik

Die Politik reagierte 1993 auf die Probleme dieses Sektors mit dem "Altschuldenhilfegesetz". Dies führte zwar zu einer Verminderung der Probleme der ostdeutschen Wohnungsunternehmen, denen einen Teil ihrer Schulden erlassen wurde, sie mussten sich dafür jedoch bis 2003 von 15 Prozent ihres Wohnungsbestandes trennen.

Die Investitionen für die Sanierung von Wohnraum in den ostdeutschen Innenstädten wurden zur lukrativen Geldanlage für wohlhabende Westdeutsche, denen heute 90 Prozent aller Häuser und Wohnungen in ostdeutschen Groß- und Mittelstädten gehören.

Anders sah es mit den "Arbeiterschließfächern" der Großwohnsiedlungen aus. Mit fast 1,1 Mio. Wohnungen bildeten diese etwa ein Sechstel des gesamten ostdeutschen Wohnungsbestandes (BMBau1994: S.27ff). So wurden in den frühen 1990er-Jahren noch Großwohnsiedlungen fertiggestellt, teilweise - wie in Halle-Neustadt - sogar weiterentwickelt und mit Mitteln des Bundes (Städtebauförderprogramm seit 1993) saniert und modernisiert.

An dieser Stelle sei auf einige der interessantesten Projekte der Umgestaltung von Plattenbauten hingewiesen: die "Grüne Zitadelle" in Magdeburg, die Stadtvillen in Leinefelde-Worbis oder die Geschossreduzierung in Halle-Silberhöhe. All diese guten Ansätze konnten den dramatisch zunehmenden Leerstand nicht aufhalten.

Der Leerstand war unaufhaltsam

Am Ende des Jahrzehnts, vermehrt nach 2000, kam es zu massiven "Rückbaumaßnahmen", denen gut 300.000 Wohnungen zum Opfer fielen. Mit dem Bundesförderprogramm "Stadtumbau Ost" (2002) wurden diese Entwicklungen begleitet. Mehr als 200 Kommunen erhielten Fördermittel, um ihre Konzepte zur Stadtentwicklung umzusetzen. Dabei sollten:

Stadtteile stabilisiert werden, die durch physischen Verfall und soziale Erosion bedroht sind, (und) … aus städtebaulicher Sicht besonders wertvolle innerstädtische Altbaubestände erhalten und dauerhaft nicht mehr benötige Wohnungen rückgebaut werden.

Verwaltungsvereinbarung vom 19.12.2001/9, S. 5

Auf der Basis dieser Konzepte flossen gut 1,5 Mrd. Euro vor allem in Klein- und Mittelstädte (seit 2004 auch an westdeutsche Kommunen). Die Ergebnisse lassen sich durchaus sehen. Schicke Innenstädte wie z.B. in Aschersleben, Naumburg usw. können allerdings nicht über den Einwohnerschwund hinwegtäuschen.

Der Mangel an Arbeitsplätzen und fehlende Kulturangebote in der Breite sind nur zwei Gründe für diese Entwicklung. Diese Probleme haben die Großstädte, allen voran Leipzig, nur bedingt. Hier wird hauptsächlich bezahlbarer Wohnraum dringend benötigt, um dem stetigen Zuzug von Menschen gerecht werden zu können.

Arbeitsaufträge für SEK I

"Wohnen muss als öffentliche Daseinsvorsorge, als öffentliche Aufgabe die Bedürfnisse von Menschen erfüllen und nicht in erster Linie Geld erwirtschaften." - Roman Grabolle, "Netzwerk Leipzig - eine Stadt für alle".

1. Informiert euch über die Rolle und Bedeutung der Stadt Leipzig vor und nach 1989.

2.  Definiert den Begriff "Boomtown". Begründet, inwieweit er auf das Leipzig der Gegenwart zutrifft.

3. Schildert eure Eindrücke beim Betrachten der Filmsequenzen über die zerfallenden Straßenzüge und die Plattenbausiedlung Leipzig-Grünau.

4. In Leipzig-Grünau sind Ende der 1990er-Jahre über 7.000 Wohnungen abgerissen worden. Erstellt einen fiktiven Bericht über die Gedanken und Gefühle eines Hausbewohners, der die Sprengung seines ehemaligen Wohnblocks beobachtet.

5. Setzt euch mit dem Begriff "Rückbau" im Zusammenhang mit dem Abriss von Wohnhäusern auseinander.


Die Arbeitsaufträge für SEK I stehen als PDF-Datei zum Download bereit.

Arbeitsaufträge für SEK II

"Wohnen muss als öffentliche Daseinsvorsorge, als öffentliche Aufgabe die Bedürfnisse von Menschen erfüllen und nicht in erster Linie Geld erwirtschaften." - Roman Grabolle, "Netzwerk Leipzig - eine Stadt für alle".

1. In Leipzig entstehen jährlich gut 2.000 neue Wohnungen und dennoch herrscht in der Stadt großer Wohnungsmangel. Erläutern Sie diesen Widerspruch.

2. "Wohnungen dienen eben nicht mehr dazu Menschen das Grundbedürfnis nach wohnen zu erfüllen, sondern relativ schnell, sicher und einfach hohe Renditen für Kapitalanleger zu erwirtschaften." (Roman Grabolle vom "Netzwerk Leipzig - eine Stadt für alle"). Führen Sie zu dieser Problematik eine Podiumsdiskussion durch.

3. Vergleichen Sie die Ziele von "Projekt Leipzig 416" mit den Realitäten der "Trabantenstädte" zu DDR-Zeiten.

4. In Ostdeutschland werden - seit 2014 - jährlich immer noch circa 8.200 Wohnungen mit staatlicher Förderung abgerissen, während Flüchtlinge in Container-Siedlungen leben. Nehmen Sie zu dieser Tatsache Stellung.

Die Arbeitsaufträge für SEK II stehen als PDF-Datei zum Download bereit.

Erläuterungen zum Filmmaterial

Die Erläuterungen zum ersten Film können Sie auch als PDF-Datei downloaden.

Das vorliegende Filmmaterial setzt sich mit der Wohnungsmisere in Leipzig auseinander. Seit Jahren verzeichnet die Stadt, entgegen dem sonstigen Trend in den meisten Großstädten Ostdeutschlands, mit 10.000 Zuzügen pro Jahr einen raschen Anstieg der Bevölkerung. Rund 600.000 Einwohner lebten 2020 in der Stadt. Die jährlich gut 2000 neu erbauten Wohnungen bedienen jedoch ausschließlich das sogenannte "Hochpreissegment" mit Mieten über 10 Euro pro Quadratmeter.

Die Gründe für das Fehlen erschwinglichen Wohnraumes für sozial weniger gut gestellte Gruppen erläutert Prof. Rink (stellvertretender Leiter am Department Stadt- und Umweltsoziologie des Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ) anhand der Geschichte des Wohnungsmarktes in Leipzig seit DDR-Zeiten. Mit Bildern von zerfallenden Gründerzeitbauten unterlegt, berichtet er über den schlechten Zustand von gut drei Vierteln der 100.000 Altbauwohnungen.

Im Folgenden wird am Beispiel von Leipzig-Grünau auf die Errichtung sogenannter "Trabantenstädte" als "einziges Patent" der DDR für die Beseitigung des Wohnungsmangels eingegangen. Die preisgünstigen Mieten in diesen Plattenbauten werden erwähnt. Dem Abriss von Altbauten in den Innenstädten wird eine kurze Sequenz gewidmet. Dass im Jahr 2000 gut zwei Drittel der Altbauten saniert sind, wird dem (staatlich geförderten) Wirken vorrangig westdeutscher Hauseigentümer zugeschrieben. Der Zusammenhang zum gleichzeitigen (inzwischen aufgehaltenen) Bevölkerungsschwund in der Stadt wird nicht thematisiert.

Der damit einhergehende massive Leerstand von Wohnraum, vor allem in den Plattenbausiedlungen, führte zum Abriss von über 14.000 Wohnungen. Die Sprengung eines solchen Blocks in Leipzig-Grünau steht im Film stellvertretend für den Verlust von 7.000 Wohnungen in diesem Stadtteil.

Wer sich kein Eigenheim in den Randgebieten der Stadt leisten kann, sucht seit Jahren in Leipzig nach bezahlbarem Wohnraum. Doch sozialen Wohnungsbau gibt es, trotz anlaufender Programme des Freistaates Sachsen, gegenwärtig kaum. Hoffnung macht ein innerstädtisches Projekt, das 2.000 Wohnungen für 3.000 Menschen bringen soll. Das soziale Konzept wird von einem Projektmitarbeiter erläutert.

Abschließend kommt Roman Grabolle vom Netzwerk "Leipzig – eine Stadt für alle" mit folgender Aussage zu Wort: "Wohnungen dienen eben nicht mehr dazu, Menschen das Grundbedürfnis nach Wohnen zu erfüllen, sondern relativ schnell, sicher und einfach hohe Renditen für Kapitalanleger zu erwirtschaften."