Zeitzeuge aus der MDR-Doku "1989 - Aufbruch ins Ungewisse" Günther Sattler

03. März 2020, 11:15 Uhr

Der 25-Jährige Günther Sattler kann seine Kritik an der DDR nicht länger für sich behalten. Er schreibt ein Flugblatt und ruft Gleichgesinnte zur ersten Demo in Arnstadt auf.

Im Frühjahr 1989 kommt Günther Sattler nach seinem Wehrdienst zurück in seine Heimatstadt Arnstadt. Dort sieht er keine Perspektive für sich und ist umso unzufriedener mit den Zuständen in der DDR. "Ich konnte nicht mehr so weiter machen und in irgendeinen Beruf gehen und so tun, als wenn nichts gewesen wäre", erinnert sich der gelernte Fleischer. Der Staat ist für den 25-Jährigen nichts als ein großes Lügengebilde. Denn wie so vieles findet auch die Massenflucht von DDR-Bürgern über Ungarn in den DDR-Medien quasi nicht statt. "Ich fand das sehr schade, dass die DDR damals überhaupt nicht darauf reagiert hat. In den Nachrichten tauchte nichts auf. Es wurde immer wieder schöngefärbt", erzählt er. In seinem Freundeskreis wird zwar viel diskutiert, doch mehr nicht.

Günther Sattler kann nicht länger zuschauen und sucht Gleichgesinnte. Unter dem Vorwand, eine Bewerbung schreiben zu wollen, borgt er sich eine Schreibmaschine. "Ich hab' getippt die ganze Nacht, bis in die Früh hab' ich getippt. Mit Pauschpapier und allem Papier, was ich zur Verfügung hatte", erinnert er sich. Bis in die frühen Morgenstunden verteilt er seine Flugblätter, in denen er am 30. September zu einer illegalen Demonstration aufruft, in Arnstadt.

Ich hatte gar kein Konzept in dem Sinne. Ich wollte eigentlich erreichen für mich, dass diese Lügerei aufhört. Dass man vielleicht auch seine Gedanken frei sagen kann, ohne dafür bestraft zu werden.

Günther Sattler

Stasi findet keine Zeugen

"Eigentlich war dieses Flugblatt ein Hilferuf von mir. Ich hab in dem Augenblick nicht daran gedacht, die Bevölkerung von Arnstadt aufzuwiegeln." Er ahnt nicht, welche Resonanz seine Flugblätter in der Stadt finden. Doch auch die Staatssicherheit wird aktiv, sucht nach den Urhebern des Flugblatts. Schreibmaschinen werden kontrolliert und fieberhaft nach der Gruppe gesucht, die hinter der Aktion steckt. Doch wie durch ein Wunder gibt es keine Zeugen von Sattlers nächtlicher Aktion. Ihm selbst wird es immer unheimlicher.

Flugblatt geschrieben von Günther Sattler, mit dem zur ersten Demo in Arnstadt am 30.09.89 aufgerufen wurde.
Günther Sattlers Flugblatt Bildrechte: MDR/LE Vision

Der 30. September ist da. Der Tag, an dem sich alle Unzufriedenen versammeln sollen. Über Arnstadt liegt eine angespannte Ruhe. Günther Sattler ist bei einem Freund, immer wieder schauen sie aus dem Fenster um zu beobachten, was auf dem Holzmarkt passiert. Stasi-Mitarbeiter postieren sich mit Kameras behangen in den Hauseingängen. Dann kommen ein paar Jugendliche, später ein paar ältere Leute. "Kurz vor 14 Uhr ging das eigentlich schlagartig: Auf einmal waren da so 150 bis 200 Leute auf diesem Platz. Das kann man nicht beschreiben, das Gefühl. Mal davon abgesehen, dass ich wahrscheinlich nie einen Ton rausbekommen hätte, aber habe ich überlegt, ob ich da nicht was sagen sollte. Aber man kam mir zuvor."

In der Menge fordern einige, dass es eine stille Demonstration sein soll, bei der keiner reden muss. In der nächsten Woche will man sich wieder treffen und jeder soll noch jemanden mitbringen. "Es war ein Wahnsinnsgefühl damals. Emotional kann man das gar nicht ausdrücken, was da in mir vorgegangen ist. Ich fand Bestätigung, dass meine Gedanken nicht so danebenlagen. An diesem 30. wurde mir bewusst, dass ich das verursacht hatte. Dass ich die Leute dorthin gerufen hatte." So regte sich am 30. September der erste, noch verhaltene Protest, der Auftrieb gibt, im kleinen thüringischen Städtchen Arnstadt.

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