Kindheitserfahrungen Nehmt den Winter auf die Schippe!

14. November 2016, 11:23 Uhr

In meiner Kindheit sah ich dem Winter mit gemischten Gefühlen entgegen: Einerseits sehnte ich mir Schnee herbei, um mir beim Winterdienst Geld verdienen zu können. Andererseits war da das Kohlenholen und Feuermachen …

Bereits im Oktober wurden alljährlich die ersten Plakate geklebt. In großen Lettern prangte es an allen Litfasssäulen: "Nehmt den Winter auf die Schippe!". Auch in Zeitungsartikeln wurde dem bevorstehenden Winter der Kampf angesagt und die Gefechtsbereitschaft beschworen. Höhepunkt der Vorbereitungen war die "Woche der Winterbereitschaft", die oft bei schönem Herbstwetter stattfand. Die Stadtreinigung überprüfte ihre Schneepflugflotte und Streusandvorkommen, die Betriebe zählten Schneeschieber und Kehrbesen und alles mündete in dem lauthals verbreiteten Tenor: Wir sind bereit! Der Winter kann kommen!

Winterszene in Leipzig in der 1980er-Jahren
Zum Schneeschieben abgeordnet, Leipzig in der 1980er-Jahren Bildrechte: MDR/Mahmoud Dabdoub

Fiel dann im Dezember der erste Schnee, waren alle völlig überrascht. Gerade noch hatten die Tulpen geblüht und plötzlich schneite es …? Die volkseigenen Betriebe stellten Arbeitskräfte zum Schneeschippen ab, die Schneepflugfahrer schoben Überstunden und die Genossen der Nationalen Volksarmee durften endlich etwas Sinnvolles tun und statt einem Gewehr eine Schaufel in die Hand nehmen: Schwerter zu Schneepflügen! Das ganze Land war in Alarmbereitschaft und nach drei Tagen Wintereinbruch bestand die Bevölkerung zum größten Teil aus Helden. Helden, die eingefrorene Weichen auftauten, eingefrorene Wasserleitungen reparierten und die trotz schlechtem Wetter weiterhin zur Arbeit gingen und den Plan erfüllten.

Tante Eva - Meine Heldin des Winters

Aber für mich war die Heldin des Winters meine Tante Eva. Tante Eva lebte mit ihren drei Kindern in einer kleinen Zweizimmer Erdgeschoss-Wohnung, Klo halbe Treppe. Was in diesem Fall, da sie schon ebenerdig wohnte, bedeutete, dass sich das Klo in einer kleinen Kammer direkt vor der Hoftür befand. Immerhin war es ein Wasserklosett, ein Luxus, für den meine Tante im Winter schwer büßen musste. Mit Wolldecken und Jutesäcken umhüllt, trotzten Toilettenbecken und Spülkasten dem Frost. Tante Eve kämpfte mit ausrangierten Steppdecken und Wärmflaschen gegen das Einfrieren der Leitungen. Nicht immer gelang der Kampf. Manchmal konnte noch mit lauwarmem Wasser gerettet werden, was zu retten war, doch Vorsicht! Bei heißem Wasser sprang die Kloschüssel.

Und auch als der Fortschritt einzog und meine Tante aus dem Westen einen Heizlüfter geschickt bekam, war das Übel nicht gebannt, denn es näherte sich der nächste Feind: Die Aluminiumleitung. Nun blieb das Klobecken heil, doch die Steckdosen und Kabel verschmorten. Für mich als Kind hatte ein Klobesuch bei Tante Eva etwas von einer Arktis-Expedition. Wenn ich mich traute, dieses Klo zu benutzen, würde ich auch den Nordpol bezwingen.

Zwei Mark fürs Schneeschieben

Ich war dem Winter generell nicht abgeneigt. Ich sehnte ihn regelrecht herbei, denn der Winter war meine größte Einnahmequelle. Ich wohnte in einem großen Mietshaus am Waldplatz. Schneite es, musste der breite Gehweg, der sich, da es ein Eckhaus war, über zwei Straßen erstreckte, vom Schnee befreit werden. Da die meisten Hausbewohner im Rentenalter waren, konnte das Rotationsprinzip nicht greifen, und so erklärte sich der Hauseigentümer "Gebäudewirtschaft" bereit, für jede Stunde Winterdienst zwei Mark zu zahlen.

Vor Weihnachten sang ich inbrünstig in der Schule "Schneeflöckchen Weißröckchen, wann kommst du geschneit…" und wünschte mir Schneestürme und meterhohe Schneewehen. Je mehr es schneite, umso mehr Weihnachtsgeschenke konnte ich für meine Eltern kaufen. "Wenigstens Schneeregen", flehte ich gen Himmel, denn auch Schneematsch ließ sich von der Straße fegen, man musste nur schnell genug sein, bevor es taute. Der Schnee wandelte sich durch mich auf wundersame Weise in ein Stück gute "Meißner Badeseife" für meine Mutter und in ein Paar Socken für meinen Vater. Frühlingshafte Temperaturen im Dezember waren für mich ein Gräuel, weil sie mich zwangen, etwas für meine Eltern zu basteln.

Vom Kohlenholen und Feuermachen

So sehr ich auch das Winterwetter herbeisehnte, die Kälte hatte aber für mich auch einen beschwerlichen Aspekt: Das Heizen. Ich war meist als Erste zu Hause, was hieß, ich musste "Feuer machen". Es war ein vorgeschriebener Arbeitsablauf, bei dem es viele Regeln gab. Zuerst hatte ich die Asche vorsichtig mit dem Feuerhaken durch das Rost in den Aschekasten zu rühren, ohne zu stieben versteht sich, dann musste ich mit dem vollen Aschekasten den Parcours über den Korridor, durch das Treppenhaus, den Hausflur, über den Hof zu den Mülltonnen meistern, ohne ein Krümelchen Asche zu verlieren. Jetzt kam die schwierigste Aufgabe: Das Kohlenholen. Der Kellergang war nur schwach beleuchtet. Das Rattengift schimmerte hell in den Ecken und erinnerte mich an die Gefahr. Ich lebte in der ständigen Angst, statt einer Kohle nach einer Ratte zu greifen. Waren die Eimer endlich gefüllt, hetzte ich aus der Dunkelheit schnell nach oben. Und wehe ich verlor ein Brikett auf der frisch gebohnerten Treppe!

Das Anzünden war eine Kunst. Ich durfte nur einen halben Riegel Kohlenanzünder verwenden, denn Kohlenanzünder war im Winter knapp, und wer wollte schon im Sommer stinkenden Kohlenanzünder in seiner Wohnung horten. Der Drogerie-Besitzer wachte über die Bestände und gab nur ein Päckchen pro Kunden ab. Brannte der Kohlenanzünder, galt es die Kohlen so zu übereinander zu schichten, dass sich Glut bilden konnte. Die letzte Etappe war das Nachlegen. Ein gefährliches Unterfangen, denn leicht konnte eine glühende Kohle ins Rutschen kommen, auseinander brechen und kleine Glutstücke nach außen, neben das Blech, fallen. Meine Mutter roch sofort, wenn ich ein neues Loch in das Linoleum gebrannt hatte.

Meiner Mutter träumte immer davon, unsere Jugendstilkachelöfen gegen eine Zentralheizung im Plattenbaugebiet Leipzig-Grünau zu tauschen. Das Rennen um die Neubauwohnung machte allerdings Tante Eva, die Anfang der Achtzigerjahre von ihrem Winterkampf erlöst wurde und nach Grünau ziehen durfte. Nun hatte sie eine warme Wohnung, die so warm war, dass sie im Winter die Fenster öffnen musste.

Kurzbiografie der Autorin Kathrin Aehnlich wurde 1957 in Leipzig geboren. Nach einem Ingenieur-Studium studierte sie von 1985 bis 1988 am Leipziger Literaturinstitut und veröffentlichte Hörspiele und Erzählungen.
1989 Beginn der journalistischen Arbeit für die unabhängige Wochenzeitung "Die andere Zeitung" (DAZ), dann erste Hörfunk-Dokumentationen. Seit 1992 ist sie Feature-Redakteurin bei MDR FIGARO.