DDR-Grenzsoldaten vor dem Brandenburger Tor
DDR-Grenzsoldaten vor dem Brandenburger Tor Bildrechte: MDR/LOOKS Film & TV GmbH/Bundesarchiv Berlin/Peter Heinz

Mauerschützenprozesse

05. Februar 2021, 05:00 Uhr

Der erste Mauerschützenprozess beginnt im September 1991. Vor Gericht stehen vier Grenzsoldaten, die den Flüchtling Chris Gueffroy erschossen haben sollen. Gueffroy, der im Februar 1989 in die Bundesrepublik fliehen wollte, ist der letzte Mauertote.

Im Januar 1992 wird vor dem Berliner Landgericht das mit Spannung erwartete Urteil im ersten "Mauerschützenprozess" verkündet. In dem seit September 1991 laufenden Verfahren sind vier Grenzsoldaten angeklagt, Chris Gueffroy im Februar 1989 bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer erschossen und einen weiteren Flüchtling verletzt zu haben.

Für das Gericht ist die Frage nach der Schuld der Angeklagten schwierig zu beantworten. Staatsanwalt Christoph Schaefgen: "Es war die Frage zu klären, ob diese Soldaten berechtigt waren, den 'Grenzverletzer' notfalls zu erschießen. Und da beriefen sich die Verantwortlichen der DDR auf das sogenannte Grenzgesetz oder auf die Befehlslage insgesamt und meinten nach dem Recht der DDR sei das alles in Ordnung gewesen. Das war juristisch schwer zu widerlegen." Der Todesschütze wird schließlich zu vier Jahren Haft verurteilt, die Mitangeklagten zu Bewährungsstrafen. Das Bundesverfassungsgericht hebt das Urteil gegen den Todesschützen aber wieder auf. Begründung: Das Strafmaß sei zu hoch gewesen, da der Schütze in der militärischen Hierarchie ganz unten gestanden und nur auf Befehl gehandelt habe.

Anklage gegen Erich Honecker

Die Justiz steht bei der Verfolgung der Todesschüsse an der Mauer und der innerdeutschen Grenze tatsächlich vor einer schwierigen Aufgabe. Die politisch Verantwortlichen der DDR bestreiten vehement die Existenz eines "Schießbefehls" und berufen sich auf Anweisungen aus Moskau. Grenzsoldaten- und Offiziere wiederum berufen sich darauf, nur auf Befehl gehandelt zu haben. Dokumente, die die Existenz eines expliziten "Schießbefehls" beweisen, sind bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht entdeckt worden. Das ändert sich erst Ende des Jahres 1992.

"Wir hatten Dokumente gefunden, aus denen sich ergab, dass Honecker den rücksichtslosen Gebrauch der Schusswaffe an der Grenze in einer Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates gefordert hatte", erinnert sich der Berliner Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen.

Das haben wir zum Anlass genommen, einen Haftbefehl gegen ihn zu beantragen.

Christoph Schaefgen Generalstaatsanwalt

Am 12. November 1992 wird tatsächlich der Prozess gegen den einst mächtigsten Mann der DDR eröffnet. Ihm werden Totschlag und versuchter Totschlag in 68 Fällen zur Last gelegt. Mitangeklagt sind Willy Stoph, Heinz Kessler, Erich Mielke, Hans Albrecht und Fritz Streletz. Allesamt waren sie Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates, des zentralen Gremiums für alle Verteidigungs- und Sicherheitsmaßnahmen der DDR.

Staatsanwaltschaft fordert 15 Jahre Haft für Mauertote

Doch zunächst wird nicht über den von den Angeklagten vehement bestrittenen "Schießbefehl" verhandelt, sondern über deren Gesundheitszustand. Stasi-Chef Mielke, dem ein weiterer Prozess wegen zweier Morde 1931 blüht, und der einstige Ministerpräsident Stoph scheiden dann auch bereits am zweiten Verhandlungstag aus. Auch beim Hauptangeklagten ist fraglich, ob er das Ende des Prozesses erleben wird – Honecker hat Leberkrebs.

Im Dezember 1992 legen Honeckers Anwälte beim Berliner Verfassungsgericht wegen des Gesundheitszustandes ihres Mandanten Beschwerde gegen die Weiterführung des Prozesses ein. Und sie haben Erfolg: Am 12. Januar 1993 wird die Einstellung des Verfahrens verfügt. Honecker verlässt am nächsten Tag die JVA Moabit und fliegt nach Santiago de Chile, wo ihn seine Frau Margot bereits erwartet. Die restlichen Angeklagten aber werden im September 1993 zu hohen Haftstrafen verurteilt: Kessler zu siebeneinhalb Jahren, Albrecht und Streletz müssen für fünf Jahre hinter Gitter. Für Honecker hatte die Staatsanwaltschaft 15 Jahre Haft gefordert.

Kalter Krieg im Gerichtssaal

Im August 1997 werden schließlich vom Berliner Landgericht der letzte Staats- und Parteichef Egon Krenz sowie Günter Schabowski und Horst Kleiber wegen "Totschlags und Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR" verurteilt. Kleiber und Schabowski erhalten je drei Jahre Haft. Egon Krenz, der den Prozess als "Kalten Krieg im Gerichtssaal" bezeichnet und vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zieht, soll für sechseinhalb Jahre ins Gefängnis. Im Januar 2000 muss er die Haftstrafe antreten, drei Monate später verwirft der Europäische Gerichtshof seine Beschwerde.

Mielke muss sich nicht wegen der Mauertoten verantworten

Stasi-Chef Mielke wurde übrigens wegen des Doppelmordes an zwei Polizisten im Jahr 1931 zu einer Haftstrafe von sechs Jahren verurteilt. Dass Mielke für ein Verbrechen bestraft wurde, dass er vor über 60 Jahren begangen hatte und nicht für die Gewalt und Willkür in seiner Zeit als Minister für Staatssicherheit, zeigt, wie schwierig es war, die Diktatur DDR juristisch aufzuarbeiten.

Wir hatten überhaupt keine Möglichkeit, ihn wegen der Taten, die er als Stasi-Minister zu verantworten hatte, zur Rechenschaft zu ziehen. Nachdem dieses Verfahren abgeschlossen worden war, war es mit der Verhandlungsfähigkeit von Mielke noch weniger weit her, sodass es zu keinem anderen Verfahren mehr gekommen ist.

Christoph Schaefgen Generalstaatsanwalt

2004 das letzte Verfahren: Prozess um Mauertote beendet

Im August 2004 kommt es wegen der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze zu einem letzten Verfahren gegen Mitglieder der politischen Führung der DDR. Die ehemaligen Bezirkschefs der SED von Halle und Chemnitz, Hans-Joachim Böhme und Werner Lorenz, werden zu Bewährungsstrafen verurteilt. Der letzte Prozess gegen einen Grenzsoldaten geht am 9. November 2004 zu Ende, genau 15 Jahre nach dem Fall der Mauer. Ingesamt sind zwischen 1992 und 2004 131 Prozessen gegen 277 Personen geführt worden. Wegen Mordes wurde ein Grenzsoldat 1994 zur höchsten Strafe verurteilt – er bekam zehn Jahre. Im Allgemeinen verhängten die Gerichte gegen Grenzsoldaten- und Kommandeure Strafen zwischen sechs und 24 Monaten auf Bewährung.