Arbeiten an der Jahrhunderttrasse
Bildrechte: Lutz Wabnitz

Arbeiten in Sibirien Arbeiten in Sibirien: Strapazen an der Trasse statt NVA

15. Juni 2011, 15:10 Uhr

Geld oder die Aussicht auf ein Auto Typ Wartburg lockten viele zum Bau an die "Trasse". Nicht so Torsten Keiling: Er hatte ganz andere Gründe für das strapaziöse Arbeitsabenteuer bei Extrembedingungen.

Torsten Keiling lockten nicht Geld oder die Aussicht auf einen "Wartburg Komfort" an die Erdgastrasse nach Sibirien. Keiling wollte studieren. Allerdings hatte er keine Lust auf drei Jahre Armee, die ihm erst einen Studienplatz in der DDR garantiert hätten.

"Das große Abenteuer"

Da kam ihm das Angebot, statt Nationaler Volksarmee zu absolvieren, drei Jahre Erdgastrasse zu arbeiten, gerade recht. Im September 1988 ging es los – mit einer Sondermaschine vom Flughafen Berlin-Schönefeld. "Es war noch warm, doch die meisten trugen wie ich gefütterte oder wattierte Jacken und derbes Schuhwerk. Denn dort, wo wir hinflogen, würde es bald Schnee geben", schreibt der aus Nordhausen stammende Keiling vierzehn Jahre später in seinem Erinnerungsbericht "Perm - Das weite Land". Als er einen halben Tag später in Kasan ankommt und auf den Straßenschildern "Baku" und "Ulan Bator" liest, ist er fasziniert vom Hauch der großen weiten Welt. "Wir hatten ja nur den Osten. Hier, das war große Exotik und großes Abenteuer." Mit einem Lkw wird er durch weites, menschenleeres Gebiet zu seinem Einsatzort gefahren – zum Bauabschnitt Perm. Sein Personalausweis wird eingezogen und ein russischer Pass ausgestellt.

"Sibirischer Winter"

Doch Keilings Euphorie ist schon bald dahin. Der Herbst setzt ein und die Landschaft verwandelt sich in eine Schlammwüste. Wenige Wochen später bricht bereits der sibirische Winter herein mit Temperaturen bis zu vierzig Grad minus. Gearbeitet wird bis zu minus dreißig Grad - sechs Tage die Woche zu je zwölf Stunden. Keiling ist Lkw-Fahrer. Er holt Material und Lebensmittel vom nächstgelegenen Bahnhof heran. Es ist eine durchaus heikle Arbeit. Die Ortschaft liegen Dutzende Kilometer auseinander, und dazwischen gibt es ringsum nur "Schnee, Schnee, Schnee". Keiling weiß: "Wenn der Lkw ausfällt, bist du verloren da draußen. Ich kenne Fahrer, die haben bei 'ner Panne das Ersatzrad abgefackelt, um nicht zu erfrieren über Nacht."

Disco ohne Frauen

Untergebracht sind die Arbeiter in Baracken direkt an der Baustelle - sechs Mann pro Zimmer, Bett an Bett. In der Barackensiedlung gibt es eine Bibliothek, die zweimal in der Woche für eine Stunde geöffnet hat, manchmal ist Kino oder Disco im "Barsaal" - eine Disco ohne Frauen. Was es dagegen immer reichlich gibt: Wodka und "Radeberger" Bier. Oft kommt es nach den Gelagen zu Schlägereien, Türen und Fenster werden eingetreten –man nennt das hier den "Trassenkoller".

Westgeld und "Wartburg Komfort"

Der Lohn für die jahrelangen Strapazen und Entbehrungen an der Erdgastrasse: Die Gehälter sind doppelt so hoch wie in der DDR, zusätzlich gibt es vierzig Westmark jeden Monat auf ein Devisenkonto. Die Verpflegung ist umsonst und es gibt „am Brett“, der Verkaufsstelle des Lagers, alles, was in den Kaufhallen zuhause nur selten in den Regalen liegt: Schinken, Südfrüchte und ausgesuchte Pralinen… Und wer drei Jahre durchhält, bekommt obendrein auch noch eine Autokarte, die zum Kauf eines "Wartburg Komfort" ohne die sonst übliche Wartezeit von etwa zehn Jahren berechtigte.

"Wir waren ein Relikt aus vergangenen Zeiten"

Als Torsten Keiling aus Sibirien zurückkehrt, gibt es die DDR nicht mehr. Die Wende hat er am Radio mitverfolgt, am Bauabschnitt Perm, tausende Kilometer von Nordhausen entfernt. Das Kombinat, das ihn an die Trasse geschickt hatte, ist mittlerweile abgewickelt und seine Papiere sind auf dem Arbeitsamt deponiert. Aber davon weiß er noch nichts, als er nach drei Jahren Sibirien auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld ankommt: "Ich bin nach Hause gekommen und die Währung, die ich in der Tasche hatte, galt plötzlich nichts mehr." Er fühlt sich fremd zuhause: "Uns wollte keiner mehr haben. Wir waren ein Relikt aus vergangenen Tagen." Die Jahre an der Trasse mag er dennoch nicht missen: "Ich habe ein Land und seine Menschen kennengelernt und habe mich selbst kennengelernt. Und das kann mir keiner mehr nehmen."