Brigitte Reimann
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Brigitte Reimann über Sibirien: "Was für ein Land!"

22. Januar 2014, 11:36 Uhr

Im Sommer 1964 reiste Brigitte Reimann mit einer Delegation des Zentralrats der FDJ nach Sibirien. Ihre Eindrücke hielt sie in ihrem sibirischen Tagebuch fest. Das Tagebuch erschien 1965 unter dem Titel "Das grüne Licht der Steppen". Hier ein paar Auszüge.

Brigitte Reimann über Thomas Billhardt | zwischen Irkutsk und Bratsk, 16. Juli 1964.

Tommi ist genauso empfindlich wie ich. Er ist ein guter Junge und ein richtiger Künstler. Ich bin immer wieder gerührt über sein Entzücken bei Anblicken von etwas Schönem – und er entdeckt so viele Schönheiten, er hat ein scharfes Auge für Gesichter, Landschaften und Szenen.

Alt und Neu | Nowosibirsk, 13.07.

Was für ein Land! Gestern erst, morgens, wateten wir durch zähen Schlamm zu einer Maschine, die in der Steppe startete – und abends landeten wir auf einem phantastischen Flugplatz mit weißen Betonbahnen und den strahlenden Fronten hoher Glashallen.

Schießübungen | Peredjelkino 08.07.

Dann durften wir schießen soviel wir wollten, und ich wollte eigentlich gar nicht, ich habe keine Neigung zu derlei Übungen, hatte vorher auch noch nie eine Waffe in der Hand gehalten – und dann gleich eine Maschinenpistole. Die anderen, waffenkundiger, erklärten mir, es sei eine „Kalaschnikow“, das beste System und phantastisch treffsicher, und dies mag wohl stimmen, denn ich habe eine halbe ferngesteuerte Kompanie ausgerottet.

Studenten | Zelinograd, 10.07.

Auf dem Rückweg gerieten wir in eine Straße, die von Lastwagen blockiert war, und auf den Lastwagen saßen zwischen Blumen, Fahnen und Proviantkisten abenteuerlich gewandete Studenten, schwärzlichbraun und lärmend vergnügt, Mädchen mit Papiermützen und jungen mit Cowboyhüten – großer Fischzug für Billi.

Der Staudamm von Bratsk | Bratsk, 16.07.

Morgens waren wir mit ihm (Martschuk, dem Bauleiter des Staudamms), auf der oberen Stufe des fünf Kilometer langen Damms, über die Schienen und Betonschwellen der künftigen Eisenbahnlinie, die Moskau mit den Goldfeldern der Lena verbinden wird. (Die zweite, untere Stufe wird als Autobahn ausgebaut). Auf dem See treiben im Halbrund umfängliche Baumstämme, als Holzfangnetz und Eisbarriere. Die Ufer jenseits des Stausees, indem die Dörfer Padun und Bratsk versunken sind, verschwanden in grauem Dunst. Selbst wir fremden spürten schon die Aufbruchstimmung: Die riesigen Konsole-Kräne mit zwei Auslegern werden abtransportiert, und die Brigade Muraschow rüstet sich zur Abreise nach Ost-Ilim. Auch für Martschuk ist Bratsk eine zurückgelegte Etappe, er wird weiterziehen wie die tausend anderen, die immer wieder die Unruhe und Härte eines Neubeginns suchen.

Sibirische Einsamkeit, Shelenogorsk, 17.07.

Shelenogorsk liegt am Ende der Welt, hinter den sieben Bergen. Wir sind die ersten Ausländer, die jemals hierher kamen, sind also ein Grund zum Feiern, und wann ließe sich ein Russe, erst Recht ein Sibirier, die Gelegenheit entgehen, ein fürstliches Gastmahl aufzufahren und ein paar Flaschen den Hals zu brechen? … wir sehen nur noch schwarze Augen, wo wir Eisenerz und Aufbau sehen sollten.

Zitiert aus: Brigitte Reimann: Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise. Aufbau Verlag, Berlin, 2000.

Buchtipp Brigitte Reimann
Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise
Aufbau Verlag, Berlin
2000

Über dieses Thema berichtet MDR Figaro im: Radio | 29.04.2012 | 09:05 Uhr