Die "Umschau" nach 1990 Glücksritter, Abzocker und Investitionsbetrüger

18. November 2021, 17:36 Uhr

Die wirtschaftlichen Umbrüche nach der Wende sorgen für einen großen Bedarf an verlässlichen Informationen. Diesen "Hunger" zu stillen macht sich die Umschau zur neuen Aufgabe.

Türen hängen schief in den Angeln, Fensterscheiben sind zerbrochen: Von einer ehemaligen Fabrik sind nur Ruinen geblieben. Ein einzelner Arbeiter schippt Schnee zu einem Haufen. Er ist der letzte hier im Betrieb und wird bald die Lichter ausmachen. Die Heizung ist ohnehin schon abgestellt. Wo immer die "Umschau"-Kameras in den ersten Jahren nach dem Umbruch ostdeutsche Industriebetriebe besuchen, sieht es ähnlich aus: Im "Keradenta"-Werk in Radeberg bei Dresden werden Maschinenteile verladen und in den Westen abtransportiert, das "Lautex"-Werk in Zittau ist ein Trümmerhaufen: "Es ist beschissen, was wir da alles mitmachen müssen," fasst der damalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) die Lage zusammen und ergänzt, ganz Mann der Tat: "Aber wir werden es schaffen!"

Tatsächlich bemüht sich die Politik nach Kräften, die Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft zu befördern. Der Freistaat Sachsen subventioniert zum Beispiel mit einem Millionenbetrag das Vorhaben eines Schweizer Großinvestors. Der möchte 1995 in Lippendorf im Landkreis Leipzig ein neues Kraftwerk errichten. Für die nächsten 40 Jahre soll es Arbeit in der Region geben. Schon ein Jahr später aber ist das Unternehmen pleite. Recherchen der "Umschau" ergeben: Der Investor ist ein Betrüger. Er hat einen Teil der staatlichen Subventionen auf sein Privatkonto umgeleitet.

Glücksritter, Abzocker und Investitionsbetrüger

Kriminelle von großem und kleinem Kaliber bereichern sich in diesen Jahren häufig an der Arglosigkeit der Menschen im Osten. Die "Umschau" deckt solche Skandale auf: Da ist zum Beispiel jene bayerische Familie, die einen Bauernhof im Osten mit dem Versprechen kauft, ihn zu sanieren. Nach Unterzeichnung der Verträge transportieren die neuen Eigentümer Maschinen und Vieh ab. Dann verschwinden sie von der Bildfläche. Den Kaufpreis zahlen sie nie. Aber sie tauchen anderswo im Osten wieder auf und beim nächsten Bauernhof wiederholt sich das Ganze.

So vielfältig die Tricks einer Schar von Glücksrittern sind, die sich über die Neuen Bundesländer ergießen, so groß ist die Unsicherheit vieler Menschen. Im Wunsch, die eigene Familie wieder durch Arbeit ernähren zu können, lassen sich viele Ostdeutsche auf scheinbar lukrative Jobangebote ein. Vorher aber müssen die Interessenten hohe Geldbeträge überweisen. Damit schnappt die Falle zu! Die vermeintlichen "Arbeitgeber" sind längst über alle Berge.

Rat geben im neuen Wirtschaftssystem

Ab der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre wird die Sendung immer mehr zum Ratgeber in konkreten Situationen: Wie lege ich Geld am sichersten an? Wie wehre ich mich gegen die Willkür bestimmter Versicherungen? Was kann ich gegen zu hohe Heizkosten, Müllgebühren oder Abwasserbeiträge tun? Wie spare ich Steuern? Viele Zuschauer wenden sich persönlich an die Redaktion. Der Brief einer verzweifelten Rentnerin wird zum Auftakt eines jahrelangen Kampfes der Umschau gegen Ungerechtigkeiten bei der Zahlung der Altersbezüge in Ostdeutschland. Die Seniorin schreibt, dass sie in Armut leben müsse. Dabei habe sie vor der Wende regelmäßig in die Rentenversicherung eingezahlt. Auf einen Beruf hatte sie verzichtet, im eigenen Haushalt gearbeitet und mehrere Kinder groß gezogen, damit ihr Mann Karriere machen kann. Er lässt sich aber noch zu DDR-Zeiten von ihr scheiden und verfügt heute über eine stattliche Pension. Sie aber verliert nach der Wiedervereinigung einen großen Teil ihrer Rentenansprüche.

In Zusammenarbeit mit Experten prüft die Redaktion wie in diesem Fall regelmäßig, ob Rentenbescheide korrekt berechnet sind. Tausende Senioren aus den Neuen Bundesländern senden ihre Dokumente ein. Es fällt auf, dass sich die Sachbearbeiter der Rentenversicherungen besonders häufig zu Ungunsten der Senioren verrechnen. Gegen die Ansicht mancher Zeitgenossen, es sei halt nicht genügend Geld in den Rentenkassen, argumentiert Achim Schöbel, der die Sendung seit 1999 leitet: "Wenn Recht abhängig von der Kassenlage ist, dann geht das an die Grundfeste der Demokratie." Sind die Rentenbescheide korrigiert, können sich die Betreffenden meist über höhere Altersbezüge freuen. So gelingt es der Umschau, nicht nur aufzuklären und zu informieren, sondern auch in konkreten Einzelfällen zu helfen.

"Gutes von uns"

Eine Zeit lang steht das neue Selbstbewusstsein der Ostdeutschen im Mittelpunkt: "Gutes von uns" heißt eine Sendereihe, die jahrelang über Ostprodukte berichtet, die sich wieder einen Markt erobern konnten und heute nicht mehr wegzudenken sind. Wer sie kauft, sichert Arbeitsplätze in der Region. Ein Grund, weshalb die "Umschau" darüber berichtet. Aber auch ostdeutsche Werte und Traditionen rücken erneut ins Bewusstsein. Als die Pisa-Studie 2005 den deutschen Schülern ein denkbar schlechtes Zeugnis ausstellt, erinnert die Umschau daran, dass es in der DDR ein erfolgreiches Schulsystem gegeben hat, das noch heute existiert. Allerdings nicht mehr in Deutschland, sondern in Finnland. Die finnischen Schüler gelten bis heute als Gewinner des internationalen Leistungsvergleichs.

"Mit uns können Sie rechnen"

Inzwischen hat sich die Sendung erneut gewandelt. Seit Moderatorin Ana Plasencia der "Umschau" ab 2007 ein neues und für den MDR eher untypisches Gesicht gibt, interessieren sich immer mehr jüngere Zuschauer für die Themen der Sendung. Jetzt kommen Probleme beim Internetbanking genauso ins Programm wie etwa das Ansteigen der Geburtenrate in den ostdeutschen Ballungszentren. Redakteure der Umschau reisen heute schon mal auf die Thailändische Urlauberinsel Phuket, weil sich Informationen verdichten, dass es an den dortigen Stränden zunehmend zu ungeklärten Unfällen kommt:

"In einer modernen globalen Welt muss ein Regionalmagazin auch über den Tellerrand schauen", umreißt Redaktionsleiter Achim Schöbel die Aufgaben der Umschau heute und in Zukunft: "Die Bedürfnisse der Zuschauer ändern sich. Darum muss sich auch das Profil der Sendung stets ändern. Zuallererst hören wir zu, was den Leuten in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen auf der Seele brennt. Natürlich geht es immer wieder um Geld. Insofern haben die Leute recht, die sagen, es handelt sich hier um ein Verbrauchermagazin.

Der Slogan 'Mit uns können Sie rechnen' bedeutet auch, dass wir nicht nur einmal berichten und dann ist die Sache in der Flut der Informationen wieder vergessen. Nein, wir wollen an Problemen dranbleiben und diejenigen beim Namen nennen, die für Fehlentwicklungen verantwortlich sind. Wir sind offen für Themen, die für die gesamte Gesellschaft relevant sind: Die schwierigen wirtschaftlichen Umwälzungen und ihre Auswirkungen im Osten. Wo finden unsere Menschen hierzulande Arbeit und unter welchen Bedingungen arbeiten sie!? Der Bereich Familie, Kinder und Bildung wird in Zukunft wieder mehr eine Rolle spielen. Aber wir werden auch zeigen, worauf die Ostdeutschen besonders stolz sein können."

Dieses Thema im Programm: Umschau | 18. Mai 2021 | 20:15 Uhr