Damals
Per Anhalter auf dem Weg nach Prag im Mai 1992 Bildrechte: Liane Watzel

Trampen im Osten: "Chata"-Feeling für Anfänger

06. Dezember 2021, 15:43 Uhr

Im Mai 1992 trampen wir von Mönchengladbach nach Prag. Wir sind planlose 19-Jährige, die mit Rucksack in die Welt ziehen. Die Einladung eines älteren Herrn beschert uns eine schlaflose Nacht in Děčín ...

Im Mai 1992 trampen wir drei Wochen lang von Mönchengladbach nach Prag. Wir - das sind zwei Neunzehnjährige, eine aus dem Rheinland, einer aus Australien. An einem lauen Mai-Abend stranden wir in Děčín. Eine kleine Stadt kurz hinter der deutsch-tschechischen Grenze, es ist 18 Uhr und die Straßen sind so gut wie leer. Wir suchen eine Pension, ein Hostel, eine Jugendherberge, was auch immer. Wir sprechen kein Tschechisch, wir haben keinen Stadtplan und sind genauso ahnungslos, wie 19-Jährige es sind, wenn sie erstmals allein mit Rucksack in die Welt ziehen. Internet, Couchsurfing-Agenturen, Handys, Apps für jede Lebenslage - gibt es alles noch nicht. Wer unterwegs ist, ist auf sich allein gestellt.

Herbergssuche für Anfänger

"Guten Abend, wir suchen eine Pension", sprechen wir einen älteren Herrn mit Hut an. Der Herr mustert unsere Rucksäcke, denkt einen Moment nach und erklärt in gebrochenem Deutsch den Weg zu einem Hotel. Wir verfolgen seine Wegbeschreibung, die er mit den Händen untermalt, einmal rechts links, zweimal links, geradeaus - und vergessen dabei prompt die Hälfte. "No no, gutes Glück" sagt der Herr noch, lüpft seinen Hut und geht seiner Wege. "Djekuje" sagen wir und marschieren los in die Richtung, in die er zuerst gewiesen hat, biegen folgsam an der ersten Kreuzung rechts ab, an der nächsten links und verharren ratlos an einer neuen Querstraße. Doch da biegt der freundliche Herr um die Ecke, etwas außer Atem, sieht uns, strahlt und sagt: "Nu, meine Frau sagt, ich dumm. Sagt, Josef, haben schöne Gartenhaus, kommen, kommen bitte mit", gestikuliert er und lotst uns an eine Bushaltestelle. Wir fahren 20 Minuten hinaus aus der Stadt, eine kleine Ewigkeit, in der wir jeder für sich sinnieren, ob es klug ist, mit einem unbekannten Herrn aus einer Stadt zu fahren, ohne zu wissen, wohin es geht und ohne dass jemand weiß, wo wir sind.

Das kleine Reich am Berghang

In einer am Berghang gelegenen Gartenkolonie öffnet uns der Herr sein Reich, einen blühenden Garten, ein Holzhäuschen mit winziger Plüsch-Doppelcouch, einem WC auf der Haushinterseite. Dann kommt das Highlight der Hütte: "Heute Abend killen eine Flasche Bier", sagt er verschmitzt und öffnet stolz einen versteckten Holzverschlag unterhalb der Häuschens, in der Getränke kühl lagern. Wir sind gerührt über so viel Fürsorge und verabschieden uns bis zum nächsten Tag.

Nächtliche Ängste

Dann sind wir allein und fühlen uns auch so: in einem fremden Häuschen, in einem fremden Garten, in einem fremden Land und versuchen einzuschlafen. Ab und zu hören wir zwischen Vogelgezwitscher Stimmen und Schritte. Uns ist mulmig zumute und wir schlafen unruhig, lauschen immer wieder in die Nacht auf Geräusche, es ist stockdunkel, wir haben nicht mal eine Taschenlampe dabei.

Dann, am frühen Morgen, um 7 Uhr schrecken wir auf - das Gartentürchen quietscht, Schritte nähern sich, jemand macht sich an der Tür zu schaffen. Ich verstecke mich hinter meinem auch nicht viel mutigeren Freund, wir halten beide die Luft an, - die Tür geht auf. Der Hausherr raschelt mit einer Tüte: "Dobrý den, dobrý den, guten Morgen, guten Morgen. Bringen frische Brötchen, haben Hunger?" Aus einer Stofftasche zieht er eine Thermoskanne. "Hier auch warme Kaffee, viele Grüße von meine Frau Maria!" Dann verabschiedet er sich, er muss zurück zu seiner Frau oder seiner Arbeit - so genau fragen wir nicht nach. Wir sind zu verblüfft über diese freundliche Fürsorge und schämen uns für die geflüsterte Angst der Nacht, ob uns am Ende wohl jemand überfällt oder ausrauben will.

Weiter nach Prag

Nach dem Frühstück wollen wir weiter Richtung Prag, hinterlassen unter dem Sofakissen einen kleinen Dankesbrief mit unseren Adressen und zehn Mark. Wir wissen nicht, ob das viel oder wenig ist zu dieser Zeit für Herrn Frantisek und seine Frau, wir wollen ihn nicht beschämen, dass wir junge Leute vergleichsweise so viel Geld haben, aber ohne Dank wollen wir auch nicht gehen. Dann ziehen wir weiter,  Richtung Prag. - Später schreiben uns Josef und Maria aus Děčín, danken für die Überraschung unter dem Kissen, laden ein Jahr später zu ihrer Goldhochzeit ein und in einem Brief schreibt Josef, "Du bist geworden ein bisschen wie Enkeltochter".

(zuerst veröffentlicht am 31.05.2013)

Damals
"Chata"-Feeling auf der kleinen Veranda vor den Toren von Děčín Bildrechte: Liane Watzel

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: Heute im Osten - Das Magazin | 15.11.2015 | 15:35 Uhr